»McMindfulness«  

Ron Purser befürchtet, Achtsamkeit könne grossen gesellschaftlichen Schaden anrichten oder zumindest durch ein Verleiten zu Passivität das Kämpfen für konstruktive gesellschaftliche und soziale Veränderungen unterbinden. Letzteres kommt laut Purser einer indirekten Schädigung der gesamten Gesellschaft durch Nicht-Handeln gleich. 

 

Aufbau des Buches

 Das Buch ist in folgende Abschnitte gegliedert: 

  • Kapitel 01: What Mindfulness Revolution? 
  •  Kapitel 02: Neoliberal Mindfulness 
  •  Kapitel 03: The Mantra of Stress 
  •  Kapitel 04: Privatizing Mindfuless 
  •  Kapitel 05: Colonizing Mindfulness 
  •  Kapitel 06: Mindfulness as Social Amnesia 
  •  Kapitel 07: Mindfulness‘ Truthiness Problem 
  •  Kapitel 08: Mindful Employees 
  •  Kapitel 09: Mindful Merchants 
  •  Kapitel 10: Mindful Elites 
  •  Kapitel 11: Mindful Schools 
  •  Kapitel 12: Mindful Warriors 
  •  Kapitel 13: Mindful Politics 
  •  Konklusion: Liberating Mindfuless 

 

Die Kapitel 01 – 07 dienen dabei dem Aufbau der Argumentationskette, während die Kapitel 08 – 13 das Gesagte anhand konkreter Gegebenheiten aufzeigen. 

 

Zum Buchinhalt

In diesem Buch verleiht Ron Purser seiner Enttäuschung darüber Ausdruck, dass es durch Achtsamkeit nicht gelingt, den Kapitalismus zu beseitigen. Dieses in den meisten Teilen der Welt vorherrschende gesellschaftliche und wirtschaftliche System empfindet Purser als Quelle und Angelpunkt menschlichen Leidens. Er plädiert für revolutionäres politisches Handeln, um die Wurzel dieses Leidens beseitigen zu können. 

 
Das Lindern des individuellen Stresses, so wie in Jon Kabat-Zinns MBSR-Programmen beschrieben, führt hingegen laut Purser zu Passivität und Ich-Bezogenheit: Das Individuum widmet sich seinem Schmerz, beschäftigt sich mit sich selbst und verliert dadurch das Interesse am Aussen; an der Welt und an den Mitmenschen. 

 

Achtsamkeitsmeditation initiiert aus Sicht von Purser ein Getrennt-Sein der Menschen untereinander, wodurch die Schlagkraft für gemeinsames Handeln und kollektives Verbessern und Optimieren gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Systeme vermindert wird. 

Dass Achtsamkeit dabei noch vermarktet und ein Milliarden-Business ist, stösst ihm sauer auf: Sogar hier ist der Kapitalismus allgegenwärtig. 

 

Purser kreiert den Begriff »Wait-and-see-ism«, womit er die Mentalität des Zuwartens und Zuschauens beschreibt. 

Er moniert, dass hinter dem Konzept der Achtsamkeit zwar durchaus revolutionäres Potenzial steckt, dieses aber nicht zum Tragen kommt, wenn Achtsamkeit weiterhin auf die seit 1979 übliche Art gelehrt werde. Sein Buch, so schreibt er, zeigt viele Wege auf, wie Achtsamkeit nicht zu praktizieren sei. Ein erster Schritt, um es besser zu machen, ist laut Purser, zu anerkennen, dass Achtsamkeit allein ungenügend ist. 

Purser führt aus, dass der Erfolg von Achtsamkeit dazu geführt hat, dass das Konstrukt an Schlagkraft verloren hat; es ist zu einem wenig nutzbringenden Selbstläufer geworden. Hilfreich wäre, die leidenden Menschen in ihrem Lebenskontext wahrzunehmen, und im Rahmen des Genesungsprozesses bei Veränderungen am gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen System (inkl. Behebung des systemischen Rassismus) und bei anderen Formen von Verkennung und Unterwerfung des Individuums anzusetzen. 
 

Mein persönliches Fazit zum Buch »McMindfulness« 

Man mag sich nur allzu leicht auszumalen, dass für mich als Achtsamkeitspraktizierende und Verfechterin dieser Art des Umganges mit Stress und Leid die Lektüre keine leichte Kost war. Dennoch habe ich mir das Buch mit Interesse zu Gemüte geführt und durfte Einblick in eine mir zuvor gänzlich fremde Denkweise nehmen. Ich möchte dem Text ein faires Urteil angedeihen lassen; daher habe ich ihn mit Offenheit und Sorgfalt gelesen. 

 

Folgende Überlegungen tauchten bei der Lektüre auf: 

Überlegung 1: Die Vielfalt menschlichen Leidens 

Bei der Lektüre des Textes musste ich unwillkürlich an die Vielfalt menschlichen Leidens denken. Nicht jedes Leid muss einem maroden Staats- oder Wirtschaftssystem entspringen; die Spielarten des Schmerzes, die zu Leid führen können, sind variantenreich: vom amputierten Arm oder vom Missbrauch in der Kindheit über vielfältige Krankheitsformen (physisch und psychisch), schlimmste materielle / finanzielle Entbehrungen bis hin zum Tod der Liebsten und dem eigenen Sterbeprozess. Schmerz scheint mir global, international, national, aber auch ganz persönlich bis hinein in das eigene Wohnzimmer und das eigene Herz zu sein. All diese Formen des Schmerzes können Leiden und Stress verursachen. 

Bezüglich potenziellem Schmerz und der Leiderfahrung darf unser Blick daher offen bleiben: Viele Umstände können Leiden begünstigen, nicht »nur« oder vorrangig der Kapitalismus. 

 

Überlegung 2: Wirkung durch das Erkennen ablaufender Prozesse 

Achtsamkeit setzt tatsächlich beim Einzelnen an; beim persönlichen Verhalten – u.a bezüglich Reaktion auf Schmerz. Im Gegensatz zu Purser empfinde ich diesen Angelpunkt jedoch nicht als Handicap: Das gefühlte Leid und der gefühlte Stress des Individuums können durch Achtsamkeit reduziert werden, wie zahlreiche Studien belegen konnten. «Schmerz ist unvermeidbar. Leiden nicht.» schreibt Jack Kornfield (aus Das weise Herz). 

Bei Achtsamkeitspraktizierenden lassen sich laut diverser Studien Veränderungen auf physiologischer, psychologischer und neurobiologischer Ebene feststellen, beispielsweise: Senkung des Blutdruckes, verringerte Ausschüttung von Stresshormonen, weniger Suchtverhalten, gesündere Ernährung, geschickterer Umgang mit Emotionen, Erhöhung der Resilienz, Zunahme der Entscheidungsfreudigkeit, Zunahme der Hilfsbereitschaft und erwünschten Sozialverhaltens (u.a.: Grosszügigkeit und Rücksichtnahme), weniger diskriminierendes Verhalten, erhöhte Konzentrationsfähigkeit, erfolgreichere schulische Laufbahn aufgrund erhöhter Leistungsfähigkeit, usw. 

Purser nimmt leider im Laufe seines Argumentariums keinerlei Bezug auf die genannten Studienergebnisse. Aber all diese Veränderungen dürften meines Erachtens wie der sprichwörtliche Kiesel sein, den man ins Wasser wirft: Sie ziehen Kreise. Wer ein Verhalten an den Tag legt, das sich durch Wertschätzung und Hilfsbereitschaft, adäquate Selbsteinschätzung und geschickten Umgang mit den eigenen sprunghaften Emotionen auszeichnet, hat nicht nur in seinem eigenen Leben etwas bewirkt. Er wirkt auch auf seine Nächsten, auf das Arbeits- und das private Umfeld und zwar sowohl direkt durch sein Handeln, als auch indirekt durch das authentische Vorleben seiner Werte. 

Beispielsweise die von Purser oft genannte Rassismus-Problematik könnte meines Erachtens tatsächlich durch eine Verbreitung der Achtsamkeit reduziert werden; weltweite Staatsstreiche wären dabei bestimmt weniger zweckdienlich, denn sie finden ihren Weg schlussendlich eben nicht ins Wohnzimmer des Einzelnen. 

 

Überlegung 3: Bottom-up-Prozess mit dem Ziel der Konstanz 

Wer sich seiner inneren Vorgänge bewusst ist, erlangt Handlungsspielraum und neue Möglichkeiten, um Herausforderungen sinnvoll zu begegnen. Durch die minutiöse Selbstbetrachtung erwirbt der Achtsamkeitspraktizierende die Fähigkeit, dem schnellen Wechsel der eigenen Gedanken und Gefühle mit Gelassenheit zu begegnen und sich der Vergänglichkeit der Gedanken bewusst zu werden, und er schult zugleich die differenzierte Wahrnehmung. Es darf davon ausgegangen werden, dass solch ein Mensch auch das Aussen nuancierter und zugleich entspannter zu erfassen vermag; dadurch erschliessen sich Ressourcen (z.B. Kreativität bei ethischen Lösungsfindungen), die dem wenig Aufmerksamen, Angespannten womöglich schlechter zugänglich sind. 

Natürlich, da gebe ich Purser Recht: Achtsamkeit setzt bei der Stresssymptomatik an. Sie setzt beispielsweise bei den Geschichten an, die wir uns in Gedanken erzählen und bei den Manifestationen von Gefühlen im Körper, die sich durch Verspannungen und schmerzhaften Verkrampfungen äussern. Viele von uns mit diffuser Stresssymptomatik müssen zuerst ganz grundsätzlich lernen, wahrzunehmen, was in uns und mit uns geschieht. Danach gilt es, zu lernen, wie man diesen Vorgängen und inneren Programmen umsichtig begegnen kann. Und hierbei ist Achtsamkeit offensichtlich hoch wirksam. Aber sie setzt tatsächlich nicht beim Staatsstreich an, obwohl das Staatssystem ebenfalls die Quelle für Leid sein kann. 

Was man meines Erachtens nicht ausser Betracht lassen darf: Staatssysteme werden von Menschen getragen. Wie oft hat uns die Geschichte gezeigt, dass das Eruptive einer Revolution schon nach kurzer Zeit wieder verflachen und die Menschen wieder in dieselbe (oder eine ähnliche) Misere zurückfallen lassen kann! Möglicherweise liegt den auf Langfristigkeit ausgelegten Veränderungen etwas Prozesshaftes zugrunde; vielleicht ist das Prinzip «Bottom-up» hier nicht verkehrt. Das Aufkommen der Achtsamkeit als Lebenskonzept im letzten Jahrzehnt birgt Potenzial: Viele Menschen wirken bereits in ihrem Umfeld, setzen sich gegen Ungerechtigkeit ein und fördern das moderne mündige Bürgertum mit ihrem klaren Einstehen für jene Werte, derer sie sich bewusst geworden sind. Es scheint mir unmöglich zu sein, in Passivität zu versinken, wenn man von Moment zu Moment wahrnimmt, welche Auswirkungen manche Gegebenheiten auf das Denken und Empfinden haben. Achtsamkeit versucht nicht, Gedanken und Gefühle zu unterbinden und in einen wohligen, ressourcenschonenden Dämmerschlaf aus Indifferenz zu gleiten. Achtsamkeit lässt uns hinschauen; in uns und in die Welt. Das Hinschauen auch im Angesicht von unerträglichem Schmerz führt, wie ich zu behaupten wage, früher oder später zu Handeln. 

Dass das Wirken nicht im Mikrokosmos des Individuums endet, liegt meines Erachtens ebenfalls klar auf der Hand: Man denke beispielsweise an den Dalai Lama, der mit seiner Klugheit, Weitsicht und Liebenswürdigkeit viele Menschen berührt und zu einem Leben, das sich durch respektvolles Verhalten gegenüber allem Lebenden auszeichnet, inspiriert hat. Weitere Kreise, die sich ziehen. 

 

Überlegung 4: Der Mythos vom Getrennt-Sein 

«Es gibt kein da draussen und kein da drinnen. Kein Ausklinken. Kein Losgelöst-Sein. Vielmehr stehen wir in einer intensiven Beziehung zur Welt – und zwar in jedem Augenblick.» [Jon Kabat-Zinn] 

Achtsamkeitspraktizierende leben nicht losgelöst vom Aussen. Sie schwingen in Resonanz mit den unabänderlichen Tatsachen. Dadurch verbleibt Energie, dem Gegenüber aufmerksam und offen zu begegnen, sich etwaiger aufkommender Vorurteile bewusst zu werden, das eigene Empfinden in der gemeinsamen Begegnung wahrzunehmen und sinnstiftend agieren zu können und nicht zuletzt die Energie, sich den sehr wohl veränderbaren, belastenden Umständen unerschrocken zu stellen und anstehende Veränderungen anzustreben. 

In der Metta-Meditation üben sich Achtsamkeitspraktizierende zudem im Erwerben und Erweitern von Liebe und Güte gegenüber allem Lebenden. Darin kann ich keinerlei Egoismus und kein Entkoppelt-Sein vom Gegenüber erkennen (und wie oben bereits erwähnt: Die Studienlage spricht bezüglich Erhöhung von erwünschtem Sozialverhalten dank Achtsamkeit eine deutliche Sprache). 

 

Überlegung 5: Differenzierung zwischen Kapitalismus und Materialismus 

Vielleicht ergibt es Sinn, zwischen Kapitalismus und Materialismus zu unterscheiden. Könnte es nicht sein, dass unser ganz individueller und zugleich zutiefst menschlicher und somit globaler Materialismus Stress im persönlichen Erleben und stressverschärfende Wirtschaftssystemen zur Folge hat? Dass also im Materialismus die Quelle des Übels liegt? Unsere materielle Gier, die auf Besitz und Gewinn ausgerichtete Einstellung und das Hervorheben des Sicht- und Fassbaren in Abgrenzung zum Geistigen können für den Einzelnen unerkannte Quellen von immensem Stress sein. Besitz oder das Besitzenwollen können belasten. Aber auch hier kann Achtsamkeit Gutes bewirken; sie ermöglicht dem Individuum, das materielle Streben mit all seinen Konsequenzen zu erkennen und sich zu befreien von der unreflektierten Konsumhaltung, die im Westen Usus ist. Wie Kai Romhardt so schön sagt: «Jeder Euro, den wir ausgeben, ist eine Stimme für die Wirtschaftsform, die wir unterstützen.» 

 

Überlegung 6: Übereinstimmung; Leid und Forschungsbedarf 

In zwei Punkten stimme ich völlig mit Purser überein: 

Tatsächlich können der Kapitalismus oder gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Systeme ganz allgemein die Quelle von Leid sein. Ganz gewiss wären weniger Menschen verzweifelt auf der Suche nach Formen der Stresslinderung, wenn gewisse Systeme nicht äusserst stressbegünstigend wären. Da aber aus meiner Sicht Achtsamkeit weit über die pure Stressreduktion und das Erlangen von Intaktheit als «Rädchen im Getriebe» hinausgeht und meines Erachtens positiv auf die Gesamtsysteme zurückzuwirken vermag, scheint mir ein Verteufeln der Achtsamkeit oder eine Reduktion derselben auf ein simples (Wieder-)Herstellen von psychischer Funktionstüchtigkeit in der aktuellen Weltordnung fehl am Platze. 

Und tatsächlich sind wir in der Stressforschung noch immer in den Theorien von Seyle und Lazarus verhaftet, die doch schon einige Jahrzehnte alt sind – die Möglichkeit, in diesem Forschungsbereich noch mit Grauzonen und blinden Flecken konfrontiert zu sein, besteht durchaus. I have to admit: You’ve got a point there, Ronnie! 


Stellungnahme auf struktureller und sprachlicher Ebene: 

  • Purser kritisiert zwar wortreich, bietet jedoch keinerlei handfeste Alternativen an. Das Buch präsentiert somit leider keine Hilfestellung und kommt nicht über den Punkt hinaus, die Bedeutsamkeit der (notabene empirisch bereits belegten) positiven Auswirkungen der Achtsamkeit zu negieren. Zugute halten möchte ich Purser jedoch, dass er sich dessen bewusst ist und diese Problematik sogar explizit anspricht. 
  • Auch kann im Laufe des Textes mit keinen Forschungsergebnissen aufgewartet werden: Macht Achtsamkeit egoistisch? Unterdrückt Achtsamkeit politisches Engagement? Who knows. Purser nennt keine Studien; seine Aussagen bleiben im Stadium der simplen Behauptungen stecken. 
  • Der Text wirkt auf mich repetitiv. Die Durchschlagskraft eines Argumentes nimmt jedoch nicht zu, wenn man es wiederholt. Eine kürzere Abhandlung wäre dienlicher gewesen. (Ja, das schreibe ich jetzt, während ich mich selbst in Argumentationsketten verliere und schon mehrere Seiten verfasst habe. Asche über mein Haupt!) 
  • Ab und zu wirft Purser dem achtsamkeitsinteressierten Leser ein winziges Zugeständnis zu; beispielsweise meint er, er erlebe Achtsamkeitspraktizierende durchaus als freundliche, liebenswürdige Menschen. Auf derartige gönnerhafte Gesten könnte er aus meiner Sicht getrost verzichten; weder tragen sie zum Textverständnis bei, noch sind sie glaubhaft in ihrem vermeintlichen Miteinbezug und Respektieren anderer Sicht- und Lebensweisen. (Und ja: Hier verspüre ich tatsächlich Widerstände gegen den Text, die ich natürlich ganz achtsam annehme. ;-)) 

 

Trotz wenig Übereinstimmung zwischen Pursers und meiner Sichtweise: Den Diskurs, der das Buch anstösst, empfinde ich als äusserst spannend und bereichernd! Konzepte in Frage stellen und kritische Bücher schreiben zu dürfen, ist ein wertvolles kulturelles Gut; die Möglichkeit zur Meinungsäusserung und –freiheit ist absolut schützenswert. 

Noch ein letzter kleiner Seitenhieb, ach, ich kann’s nicht lassen: Es gibt Systeme, die Purser implizit dem Kapitalismus vorzuziehen scheint, die jedoch die Verbreitung kritischer Bücher durchaus zu unterbinden wussten und wissen. Ob das der Verhinderung oder Reduktion von Leid zuträglich ist? 

 

Lassen wir das mit den Suggestivfragen! Hier geht’s zu weiteren Buchrezensionen: Link 

 

Quellenangabe: Purser, Ronald (2019). McMindfulness. How Mindfulness Became the New Capitalist Spirituality. KNV Besorgung