Wer sind wir?


Ich bin nicht mein Körper; nicht mein Haar, meine Arme, meine Hände, nicht mein Herz. Meine Gedanken und Gefühle bin ich wohl auch nicht, denn sie wandeln sich schnell und sind somit nichts Konstantes. Wer bin ich?

 

Die Frage ist nicht trivial; sie hat Auswirkungen auf unseren gesamten Alltag. Und sie wird auch nicht abschliessend beantwortet in der Pubertät.

 

Jack Kornfield (2008) schreibt: 

»Wie wir diese Frage beantworten, zieht entweder Verstrickungen und Kämpfe nach sich oder – ganz egal wo wir stehen – Freiheit und Leichtigkeit.«

 

Zu erforschen, wer wir sind, ist eine Lebensaufgabe, mit der wir von Moment zu Moment von Neuem konfrontiert sind.


Die Komplexität der Frage

In der buddhistischen Psychologie (Kornfield, 2008) werden zwei Geisteszustände beschrieben: In der sogenannten »Selbst-Sicht« erschaffen wir gewissermassen unsere eigenen Konturen mit »Ich« und »Mein«. In der »vergleichenden Sicht« setzen wir uns in Relation zu anderen und bewerten, ob wir in verschiedenen Belangen besser, schlechter oder gleich gut abschneiden.

Die Identifikation mit dem Körper, Geist, den Überzeugungen, Rollen und Lebenssituationen wird im Buddhismus als »Selbstgefühl« gezeichnet.

 

Häufig identifizieren wir uns unbewusst und immer wieder mit unseren Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen. Wir nehmen unbewusst an, wir seien diese Gedanken, Gefühle und Sinneseindrücke oder sie gehören uns und machen daher unsere Identität hauptsächlich aus.

Doch wir sind nicht das in ständigem Wandel Begriffene.


Rollenbilder und Selbstzuschreibungen

Ich bin Partnerin, Schwester, Tochter. Inhaberin einer Einzelfirma. Agnostikerin. Schweizerin. Frau. Yoga-Fan. Bücher-Wurm. Autorin. Ich bin hilfsbereit, höflich, hilflos, forsch, verzweifelt, glücklich, ängstlich, freudig, motiviert, niedergeschlagen, mutig, müde, geduldig, beherzt, aufbrausend.

 

Die obige Auflistung zeigt: Nicht nur mit Rollenbildern können wir uns identifizieren; auch gesellschaftliche Gruppierungen, physische Ausprägungen, Attribute und Selbstbilder, die wir uns zuschreiben, bergen das Potenzial zur Identifikation.

  

Auseinandersetzung mit der eigenen Identität

Die buddhistische Psychologie lädt uns dazu ein, unsere Identität möglichst genau zu erforschen. Sie konfrontiert uns mit der Frage: Wer bist du hinter deinen Rollen- und Selbstbildern wirklich?

Und warum stellt sie diese Frage? Weil viel Leid aus der Identifizierung entstehen kann. Unsere Selbstbegrenzung und unser Abgrenzen gegenüber anderen kann die Bandbreite unserer Möglichkeiten, das Leben und das Gegenüber zu erfahren, schmälern und unseren Handlungsspielraum verkleinern. Sie kann sogar zu Rassismus und Ausgrenzung führen.

  

Vergleich: Buddhistische und westliche Psychologie

Sowohl in der westlichen (u.a. Sigmund Freud) als auch in der buddhistischen Psychologie ist man sich einig: Wir brauchen ein gesundes Selbst.

In der Kindheit lernen wir, uns von den Bezugspersonen abzunabeln, Grenzen zu setzen, uns selbst zu schützen. Später kommt die Impulskontrolle dazu. Und wir erweitern uns basierend auf unseren Aufgaben um etliche zusätzliche Rollen. 

 

Jack Kornfield (2008) schreibt dazu:

»Um mit der Welt besser umgehen zu können, wird das ursprünglich versuchsweise Selbst immer massiver.«

 

Hier beginnen nun die westliche und die buddhistische Psychologie getrennte Wege zu gehen:

Während bei Freud das gesunde Selbst den Höhepunkt der Entwicklung darstellt, strebt der Buddhismus nach Selbstlosigkeit. Selbstlosigkeit wird dabei nicht in dem uns bekannten sprachlichen Sinne gebraucht; damit ist nicht ein Zurückstellen der eigenen Bedürfnisse und ein Aufopfern für andere gemeint. Selbstlosigkeit meint die Abwesenheit eines konstruierten Selbst.

  

Die Selbstlosigkeit

Wir sind nicht unser funktionelles Selbst. Die obigen Aufzählungen haben gezeigt, dass wir nicht unsere Rollen oder andere wandelbare Attribute sein können; es fehlt an Konstanz.

 

Sogar aus neurobiologischer Sicht gibt es kein Selbst:

»Nach ihrer mehr als einhundert Jahre dauernden Suche haben Gehirnforscher den Schluss gezogen, dass es im Hirn keinen Ort gibt, an dem ein Selbst angesiedelt sein könnte, und dass dieses Selbst daher nicht existiert.«

[Time Magazine, 2002]

 

Die buddhistische Psychologie sagt: Mit der normalen Entwicklung ist es noch nicht getan. Sie rät, den Pfad zur Entdeckung der Selbstlosigkeit zu beschreiten: Wir sind nichts.

 

Das kann schrecklich klingen. Nach Verlust. Nach Auflösung. Nach Charakterlosigkeit.

Aber mit Selbstlosigkeit geht nicht einher, Erfahrungen abzulehnen, zu leugnen, oder Aspekte unserer Persönlichkeit loszuwerden. Wir sollen uns nicht von der Welt abkoppeln oder im verzweifelten Versuch, unsere Identität aufzusprengen, eine neue spirituelle Identität schaffen.

 

Die Idee ist simpel: All unsere Erfahrungen dürfen bleiben, wie sie sind. Es geht nur darum, uns nicht mehr mit ihnen zu identifizieren.

Wir sind nicht festgelegt, nicht determiniert. Würden wir davon ausgehen, dass wir dies seien, so würden wir uns selbst und andere begrenzen. 

(Und: Damit ist nicht gemeint, keine Meinung zu haben. Wir dürfen unsere Meinung klar vertreten und uns zugleich bewusst sein, dass wir sie hier und jetzt, heute, so äussern, dass wir nicht unsere Meinung sind und dass wir frei sind, unsere Meinung beispielsweise basierend auf überzeugenden Argumenten oder veränderten Lebensumständen anzupassen.)

 

Das Selbstgefühl entsteht in jedem Augenblick neu. In jedem Augenblick – je nach Situation und Stimmungslage – schreiben wir uns andere Attribute zu und identifizieren uns mit anderen Rollen.

Wir dürfen die unpassende Vorstellung von einem konstanten, festen Selbst durchschauen und loslassen. Unsere vermeintlich stabile Identität ist flüchtig. In keinem Augenblick sind wir »gleich«. Wenn wir unsere Rollen, Selbstbilder und vermeintliche Zugehörigkeiten untersuchen, so wird uns auffallen, dass sie nichts wirklich Beständiges sind.

  

Sich von den eigenen begrenzenden Vorstellungen lösen

Neben Anhaftung und Identifikation haben wir noch eine andere Wahl: Wir können wahrnehmen lernen, welche Attribute wir uns zuschreiben und in welcher Rolle wir uns gerade befinden. Das bewusste Innehalten und Wahrnehmen hilft, uns nicht zu identifizieren. 

 

Wir dürfen unsere Rollen und Aufgabenfelder in Ehren halten und uns adäquat durch verschiedene Situationen und in verschiedenen Anforderungsbereichen bewegen, können uns aber zugleich bewusst sein, was wir gerade tun, wie wir uns verhalten, was wir denken und fühlen in dieser Rolle, in dieser Situation, in diesem Moment.

 

Im MBSR-Kurs wird dieses Wahrnehmen trainiert. Die Früchte davon sind Flexibilität und Handlungsfähigkeit. Weil wir nicht unsere Rollen sind. Weil wir frei sind, nicht festgelegt in unserer Identität, unbegrenzt, und weil wir uns zu jedem Zeitpunkt für etwas Neues (oder bewusst wieder für Altbekanntes) entscheiden können.

 

Wer sind Sie?

Wenn Sie in einen vertieften, meditativen Exkurs zu dieser Frage eintauchen möchten, so empfehle ich Ihnen die Meditationen der folgenden Playlist: meditative Selbsterforschung





Quelle:

Kornfield, Jack (2008). Das weise Herz. Die universellen Prinzipien buddhistischer Psychologie. Arkana HC. S. 95 – 117