Achtsame Selbstfürsorge - Teil 1

Empfehlung: vorgängige Auseinandersetzung mit dem Thema

Sie sind herzlich dazu eingeladen, vor der Lektüre dieses Kapitels die folgenden Fragen in Ruhe durchzugehen. Vielleicht sogar mit einem vertrauten Menschen aus Ihrem Umfeld? 

 

  • 1) Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie das Wort «Selbstfürsorge» hören? 

  • 2) Haben Sie aus Ihrer Sicht genügend Zeit für sich? Wenn nein: Wie viel Zeit für sich würden Sie sich wünschen? Welche Möglichkeiten haben Sie, sich diese Zeiträume zu schenken? 


  • 3) Gibt es Handlungen, die Sie absichtsvoll unterlassen, um Stress zu reduzieren respektive um Ihr Wohlbefinden zu erhalten oder zu steigern? Wenn ja: Welche? 


  • 4) Gibt es Handlungen, die Sie bewusst tun, um Freude zu erleben? Wenn ja: Welche? 


  • 5) Gibt es derzeit eine Alltagsaufgabe (privat oder beruflich), die Sie regelmässig ausführen, jedoch gerne abgeben würden? Wenn ja: Gibt es eine Möglichkeit, dies tatsächlich zu tun? 


  • 6) Gibt es etwas, was Sie sich von Herzen wünschen? Wenn ja: Welche Möglichkeiten haben Sie, sich Ihrem Herzenswunsch anzunähern? 

 

Definition und Bedeutsamkeit von Selbstfürsorge

Was ist Selbstfürsorge? 
Selbstfürsorge bedeutet, uns absichtsvoll um unsere körperliche und geistige Befindlichkeit, um unser Wohlergehen, zu kümmern und Belastungen zeitnah und nachhaltig auszugleichen. 

Wenn wir unser Wohlbefinden nicht priorisieren, sagen wir Nein zu Körper und Geist. Und wir sagen Ja zu Erschöpfung und Depressionen. Das ist keine Melodramatik. Das ist die Realität. 

Keine Aufgabe ist so wichtig wie die Pflege von Körper und Geist – und zwar sowohl, wenn es uns gut, als auch, wenn es uns schlecht geht und in allen Empfindungsnuancierungen dazwischen. 

Diese Pflege, die Selbstfürsorge, kann tatsächlich viele Gesichter haben. Manchmal bedeutet Selbstfürsorge, eine Einladung anzunehmen, manchmal, eine Einladung auszuschlagen. Selbstfürsorge kann ein warmes Bad sein, wohltuende Ernährung, genügend Schlaf, Kontakt mit uns zugewandten Menschen, Rückzug und Alleinsein, ein Ja oder ein Nein, das Weglassen oder das Anpacken einer Aufgabe, ein Spaziergang, Musikhören, Lesen, drei bewusste Atemzüge, Ferien, eine Kündigung, Yoga, eine Meditation, ja sogar das Zuhalten der Nase, wenn ein Auto an uns vorbeifährt, aus dessen Auspuff eine Abgaswolke steigt. 

Selbstfürsorge auch als Akt der Nächstenliebe 

In meinen Kursen zeigt sich immer wieder: Die wenigsten Menschen betreiben absichtsvoll und regelmässig Selbstfürsorge. Es scheint unsere Gewohnheit zu sein, private und berufliche Aufgaben und die Bedürfnisse anderer vor unserem Wohlbefinden zu priorisieren. Aber Dreh- und Angelpunkt unserer Möglichkeiten, für andere Menschen und unseren Job da zu sein, ist unser Wohlbefinden. Und das macht Selbstfürsorge auch zu einem Akt der Nächstenliebe. 

Selbstfürsorge ist somit kein Egoismus; es geht nicht darum, ohne jegliche Rücksicht und auf Kosten anderer einen Vorteil für sich herauszuholen. Selbstfürsorge ist das bewusste Streben nach körperlicher und geistiger Gesundheit in einer in vielerlei Hinsicht krankenden Welt. Nur wenn wir uns Sorge tragen, können wir in diese Welt eine kraftvolle und dringend benötigte Freundlichkeit tragen. 

Und das Gute ist: Selbstfürsorge kann erlernt, geplant und geübt werden. 

Selbstwahrnehmung als Ausgangspunkt für Selbstfürsorge

Achtsame Selbstfürsorge bedarf achtsamer Selbstwahrnehmung. Die Ausgangslage dazu bilden folgende zwei Fragen: 

 

  • 1) Wer oder was tut Ihnen gut? 
  • 2) Wer oder was tut Ihnen nicht gut? 

 

Manchmal ist es gar nicht so einfach, diese zwei Fragen zu beantworten. Insbesondere, wenn wir uns überarbeitet, überfordert oder eingeengt fühlen, verlieren wir mitunter das Gefühl dafür, wer oder was uns bereichert oder entkräftet. 

Wenn Sie sich unsicher sind, welche Menschen, Situationen, Umstände, privaten Aktivitäten, beruflichen Aufgaben, Gewohnheiten, Gedanken oder Verhaltensweisen Ihnen Energie schenken und welche Ihnen Energie entziehen, so kann es hilfreich sein, sich eine Woche lang mehrmals täglich die Frage zu stellen: 

«Wie geht es mir jetzt gerade?» 
Wenden Sie sich dabei ganz freundlich sich selbst zu, und nehmen Sie in Offenheit alles an, was sich Ihnen zeigt. 

Sich diese Frage zu stellen, ist nichts anderes als ein informelles Achtsamkeitstraining: Indem Sie immer wieder achtsam innehalten, wird Ihnen bewusst, was Sie gerade tun oder unterlassen, was Sie konsumieren und mit wem Sie sich abgeben und wie es Ihnen dabei jeweils ergeht. 

Sie können sich die Frage «Wie geht es mir jetzt gerade?» beispielsweise als Erinnerung im Handy einprogrammieren und sie sich mehrmals täglich schicken lassen. Oder Sie können die Frage auf einem Post-it an Ihren Badezimmerspiegel oder an den Computer-Bildschirm kleben. Oder Sie können einen Gegenstand, den Sie gedanklich mit Selbstfürsorge verbinden, in Ihr Blickfeld stellen. Nutzen Sie die genannten oder irgendwelche anderen Strategien, um sich daran zu erinnern, immer wieder achtsam innezuhalten. 

Wenn Sie mögen, können Sie während dieser Woche der achtsamen Selbstwahrnehmung jeweils abends Ihre Erkenntnisse notieren und diese Notizen als Basis für Ihre Selbstfürsorge nutzen. Ziel ist, mithilfe der Achtsamkeit herauszufinden, wen oder was Sie weiterhin oder vermehrt in Ihr Leben einladen und von wem oder was Sie sich vielleicht distanzieren möchten. 

Gelebte Selbstfürsorge bedeutet nichts anderes, als genug von dem zu tun, was Ihnen guttut und möglichst wenig von dem, was Ihnen schadet. 

Selbstfürsorge einplanen

Wir alle haben unzählige Verpflichtungen. Es gilt, den Lebensunterhalt zu bestreiten und für Menschen, die auf uns angewiesen sind, wie zum Beispiel unsere Kinder oder pflegebedürftige Angehörige, da zu sein. Aber: Wir alle haben einen gewissen Spielraum, wenn es darum geht, gut für uns zu sorgen. 

Um Selbstfürsorge regelmässig und nachhaltig in Ihrem Alltag umsetzen zu können, empfehle ich Ihnen, sich für jeden Tag zwei selbstfürsorgliche Handlungen fest einzuplanen, zum Beispiel: 

 

  • Zehn Minuten Meditation am Morgen und fünf bewusste Atemzüge, wenn Sie vom Arbeiten nach Hause kommen. 

Oder: 

  • Sich morgens ganz in Ruhe an einer Tasse Tee und abends vor dem Schlafengehen an einer warmen Dusche erfreuen. 

Oder: 

  • Ein gesundes Mittagessen und abends eine Viertelstunde wohltuende, ermutigende Lektüre geniessen. 

Oder: 

  • Bei allen grösseren Bitten oder Anfragen, die an Sie gelangen, Bedenkzeit erbitten und nicht sofort zusagen und abends einen kleinen Spaziergang machen. 

 

Die vorangehenden Beispiele zeigen: Selbstfürsorge lässt sich wunderbar mit formellem und informellem Achtsamkeitstraining verbinden. 


Selbstverständlich sind viele weitere selbstfürsorgliche Handlungen und Verhaltensweisen möglich. Selbstfürsorge ist etwas höchst Individuelles! Wählen Sie nach Ihrem Gutdünken und passend zu Ihrem Zeitbudget. Auch mit dichtem Tagesprogramm gibt es immer Möglichkeiten für einige Augenblicke der Pflege von Körper und Geist. 

Spontane Selbstfürsorge

Manche Formen der Selbstfürsorge ergeben sich spontan: Vielleicht erhalten Sie eine niederschmetternde Nachricht und möchten sich Zeit für sich nehmen, um sich liebevoll um Ihre Befindlichkeit zu kümmern. Vielleicht fühlen Sie sich krank und lehnen ab, wenn Ihre vorgesetzte Person Sie um ein Weiterarbeiten im Homeoffice bittet. Oder vielleicht kommt jemand mit einer dringenden Anfrage auf Sie zu, und dann bedarf es achtsamer Selbstfürsorge, um zu spüren, was für Sie machbar ist. Selbstfürsorge bedeutet auch zu wissen, dass wir freie Menschen sind: Sie sind nur sich selbst verpflichtet. 

Für Ihr eigenes Wohlbefinden und Ihr persönliches Wachstum tragen Sie – und allein Sie! – die Verantwortung. Die Bedürfnisse anderer permanent höher als die eigenen zu gewichten, ist Selbstabwertung. Ihr Bedürfnis nach körperlicher und geistiger Erholung ist wertvoll und darf von Ihnen gesehen und respektiert werden. Bitte priorisieren Sie die Frage «Was ist für mich, basierend auf meinen körperlichen und geistigen Ressourcen, sinnvollerweise machbar?» und nicht die Frage «Was muss getan werden?». Die Gesellschaft lehrt uns schon früh, mehr tun zu wollen, als wir können. Das ist nicht heilsam. 

Wenn Sie noch tiefer in das Thema Selbstfürsorge einzutauchen wünschen, finden Sie im nachfolgenden Teil 2 einen ganzen Fragenkatalog, der Sie dabei unterstützen kann, in diversen Lebensbereichen selbstfürsorglich mit sich umzugehen. 

Achtsame Selbstfürsorge - Teil 2

Wenn Sie vertieft in das Thema Selbstfürsorge eintauchen möchten, so empfehle ich Ihnen, sich – auf ein paar Wochen, Monate oder sogar Jahre verteilt; Selbstfürsorge ist ein lebenslanges Thema – mit den nachfolgenden Fragen auseinander zu setzen. In welcher Reihenfolge Sie die Fragen beantworten und wie viel Zeit Sie sich dafür nehmen möchten, können Sie völlig frei bestimmen. Auch die Art der Umsetzung und der dafür benötigte Zeitrahmen liegen ganz in Ihrem Ermessen.

Vielleicht sind nicht alle Fragen von Relevanz oder Interesse für Sie. Picken Sie einfach jene Fragen heraus, bei denen Sie Potenzial für Handlungsspielraum und Ansatzpunkte für Selbstfürsorge sehen. 
Und: Bitte bleiben Sie selbstfürsorglich während der Beschäftigung mit diesen Fragen! Es ist nicht hilfreich, wenn Sie sich unnötig unter Druck setzen oder sich in Selbstoptimierungen verlieren, die Ihnen schlussendlich doch wieder schaden. Das Motto lautet: Tun Sie genug von dem, was Ihnen guttut und möglichst wenig von dem, was Ihnen schadet.

Der Fragenkatalog ist in folgende Kategorien unterteilt (wobei es gewisse thematische Überschneidungen gibt):

  • Tagesablauf, Routinen, wiederkehrende Tätigkeiten
  • Körperpflege, inklusive Ernährung und Bewegung
  • Geistespflege
  • Soziale Kontakte, Beziehungen (privat und beruflich)
  • Freizeitaktivitäten
  • Arbeitsplatz, berufliche Situation

 

Bitte beachten Sie, dass dieser Fragenkatalog nicht den Anspruch erhebt, abschliessend zu sein. Auch andere Bereiche mit Potenzial für Selbstfürsorge sind denkbar. 

Tagesablauf, Routinen (morgens, tagsüber, abends), wiederkehrende Tätigkeiten:

Wie fühlen Sie sich direkt nach dem Aufstehen? Was haben Sie am Vorabend getan? Was haben Sie am Vorabend gegessen? Wie lange haben Sie geschlafen? Wie viel Schlaf tut Ihnen gut?

Schenkt Ihnen Ihre Morgenroutine Energie? Falls nein: Was kann Ihren Start in den Tag unterstützen?

Tut Ihnen am Morgen Stille gut oder schätzen Sie morgendliche Gespräche mit Ihren Liebsten?

Wie geht es Ihnen tagsüber? Steht Ihre Befindlichkeit mit gewissen wiederkehrenden Aufgaben, Umständen, Gedanken oder eigenen oder fremden Verhaltensweisen in Zusammenhang?

Machen Sie tagsüber Pausen? Falls ja: Verbringen Sie Ihre Pausen so, dass sie Ihnen gutun?

Wie fühlen Sie sich vor dem Zubettgehen? Welche Gedanken an den vergangenen oder nachfolgenden Tag sind da? Haben Sie eine Routine, um den Tag ausklingen zu lassen? Wie können Sie zu einer guten Schlafqualität beitragen? 

 

Körperpflege, inklusive Ernährung und Bewegung:

Wie geht es Ihnen nach dem Essen bestimmter Nahrungsmittel (sowohl Hauptmahlzeiten als auch Snacks)? Welche Nahrungsmittel schenken Ihnen Energie, welche machen Sie matt und müde? Welche Auswirkungen hat Ihre Ernährung auf die Schlafqualität?

Welche Bewegungspraxis (zum Beispiel Spaziergänge, Wandern, Yoga, Joggen, Tennis, Radfahren, …) tut Ihnen gut? In welcher Häufigkeit?

Welche Formen der Körperpflege (zum Beispiel warme Duschen oder Bäder, Maniküre, Bartpflege, …) bereiten Ihnen Freude? 


Geistespflege:

Wie sprechen Sie innerlich mit sich? Sehen Sie Spielraum für mehr Freundlichkeit sich selbst gegenüber? Gibt es einen liebevollen Satz, den Sie sich jeden Tag selber sagen möchten?

Welche Erwartungen haben Sie an sich? Fühlen Sie sich wohl damit? Gibt es Erwartungen, die Sie bewusst herunterschrauben möchten?

Wofür sind Sie dankbar?

Über welche Talente, Ressourcen und Fähigkeiten verfügen Sie und wie können Sie diese im Alltag ausleben / einsetzen?

Was konsumiert Ihr Geist? Was hören, sehen, lesen Sie? Wie ergeht es Ihnen damit? Möchten Sie etwas davon weglassen / vermehrt tun? Fühlen Sie sich wohl mit der Häufigkeit und Art, wie Sie Fernseher, Handy und Social Media nutzen?

 

Soziale Kontakte, Beziehungen (privat und beruflich):

Fühlen Sie sich ermutigt und wertgeschätzt von Ihrem privaten und beruflichen Umfeld? 

Welchen Raum nehmen Sie in Ihrer Familie oder Ihrem Freundeskreis ein? Wie fühlen Sie sich damit?

Welchen Raum nehmen Sie in Ihrem Arbeitsteam ein? Wie fühlen Sie sich damit?

Wie geht es Ihnen, nachdem Sie sich mit … getroffen haben? Mit wem möchten Sie sich häufiger abgeben? Mit wem möchten Sie weniger Kontakt pflegen?

Führen Sie aus Ihrer Sicht genügend tiefe Beziehungen? Falls nein: Wie könnten Sie Ihre aktuellen Beziehungen vertiefen oder neue Beziehungen knüpfen?

Wie geht es Ihnen, nachdem Sie zu einer bestimmten Verabredung / Verpflichtung Ja gesagt haben? Wie geht es Ihnen, nachdem Sie abgelehnt haben?

Wie geht es Ihnen während eines Konflikts? Wie geht es Ihnen danach? Haben Sie Ihre Bedürfnisse während des Konflikts wahrgenommen und ihnen auf für Sie adäquate Weise Ausdruck verliehen? Kennen Sie Ihre Grenzen und zeigen Sie diese anderen auch?

 

Freizeitaktivitäten:

Welche Freizeitaktivitäten bereiten Ihnen Freude? Lesen, Musizieren, Spazieren, Sport, Kochen, Reisen, Freunde treffen?

Haben Sie Hobbys, die Sie beleben und vitalisieren?

Haben Sie Hobbys, die Sie entspannen und beruhigen?

Haben Sie genügend Zeit für Ihre Freizeitaktivitäten? Falls nein: Wie können Sie mehr Zeit dafür schaffen?

 

Arbeitsplatz, berufliche Situation:

Wie geht es Ihnen, wenn Sie an den Arbeitsplatz denken?

Wie geht es Ihnen, wenn Sie an den Arbeitsplatz kommen?

Empfinden Sie Ihre Arbeit als sinnvoll?

Ist die Infrastruktur Ihres Arbeitsplatzes der Art Ihrer Aufgaben dienlich?

Ist Ihr Arbeitsvolumen für Sie bewältigbar? Falls nein: Gibt es Aufgaben, die Sie abgeben / delegieren oder weglassen können?

Wissen Sie, was Ihre vorgesetzten Personen von Ihnen erwarten? Stimmen diese Erwartungen mit Ihren eigenen Erwartungen und Absichten überein? Falls nein: Gibt es Möglichkeiten, für Sie tragbare Kompromisse zu finden?

Verfügen Sie über den Handlungsspielraum, den Sie sich wünschen?

Halten Sie Ihren Lohn für angemessen? Falls nein: Was können Sie dagegen tun?

Ist es Ihnen wichtig, einen Job zu haben, der Ihnen Freude bereitet? Und falls ja: Tut Ihr aktueller Job dies?

Wie geht es Ihnen, wenn Sie Ihren Arbeitsplatz verlassen?

 

Wenn Sie den Mut finden, jene Lebensbereiche, in denen Sie Handlungsspielraum erahnen, auf für Sie passende Weise zu gestalten (ohne anderen Lebewesen absichtsvoll Leid zuzufügen), werden Sie ziemlich sicher mit nachhaltig erhöhtem Wohlbefinden belohnt werden.