Achtsamkeit ist zu viel «Gspürsch mi?»!
Diesen Satz höre ich immer mal wieder. Dahinter steckt meist ein lückenhaftes Verständnis von Achtsamkeit.
Achtsamkeit ist die Würdigung der Gegenwart; das Anerkennen dessen, was geschieht, währenddem es geschieht. Sie ist das urteilsfreie In-Kontakt-Sein mit den Körperempfindungen, Sinneseindrücken und der Vielfalt der sich im Geist abspielenden Prozesse; also mit den Gedanken und Gefühlen.
Dieses urteilsfreie In-Kontakt-Sein mit dem, was um uns und in uns geschieht, schenkt uns Freiheit. Eine Person, die um ihr Erleben weiss und diesem mit Akzeptanz begegnet, wird sich mit grosser Wahrscheinlichkeit in vielen Situationen umsichtiger verhalten als jemand, der andern gegenüber zwar empathisch, sich selbst gegenüber jedoch unachtsam ist.
Mithilfe der Achtsamkeit können wir uns von reaktivem Verhalten, Mitleiden und dem Wiederholen von (zwanghaften) Denk- und Handlungsmustern lösen und in jedem Augenblick frei entscheiden, wie wir uns verhalten wollen. Wir sehen uns, erkennen uns, nehmen uns an – und erschliessen uns dadurch die Möglichkeit, mit Bewusstheit zu agieren (oder nicht zu agieren).
Wir dürfen uns von der Vorstellung lösen, dass Achtsamkeit bedeute, andere müssten uns spüren oder wir müssten andere erspüren, müssten uns also auf irgendeine absonderliche Weise – vielleicht über Telepathie? – die Gedanken- und Gefühlslandschaften unserer Mitmenschen erschliessen. Und ist es nicht anmassend, zu glauben, wir könnten das innere Relief anderer Menschen kongruent in uns abbilden? Oder andere Menschen unser Relief? Jeder Mensch ist ein Universum an Komplexität!
Der gegenwärtige Augenblick sorgt für uns und unsere Mitmenschen, wenn wir uns im Hier und Jetzt selbst wahrnehmen. Achtsame Kommunikation und achtsames Handeln werden dann möglich, wenn wir nicht mehr über die Innenwelt des Gegenübers spekulieren, sondern über unsere eigene Innenwelt Bescheid wissen. Dieses Wissen erhöht sogar unsere Empathie, denn wir verlieren uns nicht in den Erzählungen des Gegenübers und sind uns zudem bewusst, durch welche Wahrnehmungsbrille wir gerade schauen; können also abwägen, ob unsere eigenen aktuellen Gedanken und Gefühle das real zu Hörende vielleicht verfremden. Wir eröffnen uns dadurch Handlungsspielraum, bleiben wertungsfreier, gelassener, toleranter und näher an der Realität, als wenn wir uns wie eine Brausetablette in den Gewässern der potenziellen (es handelt sich ja stets um Spekulation!) Gefühlstönungen und Denkprozesse anderer auflösen.
Man stelle sich vor, alle beteiligten Gesprächspartner verhielten sich auf solch achtsame Weise – welche Kraft, welches Einsichtspotenzial, welche Heilsamkeit in solchen Gesprächen liegen würde!