Können Meditationen Nebenwirkungen haben?

Ja. 

In diesem Blogeintrag möchte ich allerdings statt «Nebenwirkungen» den Begriff «Nebeneffekte» bemühen – und diese möchte ich als zusätzlich zum Hauptziel der Meditation auftretende Effekte verstanden wissen. Das Wort «Nebenwirkung» ist in unserem Sprachgebrauch oft negativ konnotiert. Die während und nach Meditationen auftretenden möglichen Nebeneffekte können jedoch durchaus auch angenehme und bereichernde Aspekte enthalten.

Die erwünschte und absichtsvoll angepeilte Wirkung von Achtsamkeitsmeditationen ist, möglichst oft und möglichst lange innerhalb und ausserhalb der Meditation in einem Zustand des bewussten, gegenwärtigen und wertungsfreien Seins zu verweilen. Das Hauptziel der Achtsamkeitsmeditation besteht also darin, die Fähigkeit zu Achtsamkeit zu vertiefen und zu erweitern. 

Nachfolgend finden Sie eine Auflistung möglicher Nebeneffekte, die während der Meditation auftreten können – und teilweise auch darüber hinaus bestehen bleiben:

  • Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit
  • Körperliche und geistige Entspannung
  • Weitere körperliche Phänomene
  • Intensive Sinneseindrücke
  • Veränderte Wahrnehmung von Zeit und Raum
  • Starke angenehme Gefühle
  • Starke unangenehme Gefühle
  • Leerheit
  • Erinnerungen
  • Loslösung von alten, nicht (mehr) dienlichen Mustern
  • Tiefgreifende Einsichten

(Übrigens: Auch weitere Wirkungen des Meditierens - vergleiche Studienergebnisse - können als Nebeneffekte betrachtet werden.)

Im Folgenden wird jeder einzelne dieser Nebeneffekte besprochen.

 

Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit:

Die sogenannte «Zugangskonzentration» und eine stabile Aufmerksamkeit unterstützen in der Meditation dabei, den Fokus absichtsvoll auszurichten und aufrecht zu erhalten. Um während der Meditation überhaupt in einen achtsamen Seins-Zustand eintreten und darin verweilen zu können, sind diese beiden Fähigkeiten unabdingbar (darum wird dieser Nebeneffekt auch an erster Stelle genannt), und mit jeder Achtsamkeitsmeditation werden sie mittrainiert. Dies kommt Meditierenden durchaus auch ausserhalb der Meditation zugute!

 

Körperliche und geistige Entspannung: 

In der Meditation sowie Stunden danach können Phasen der körperlichen und geistigen Entspanntheit und des Wohlbefindens auftreten. Die Atmung fliesst ruhig, die zeitlichen Abstände zwischen den Herzschlägen sind harmonisiert, Geduld und Gelassenheit sind erhöht.

 

Weitere körperliche Phänomene: 

Während Meditationen können nebst der körperlichen Entspanntheit verschiedene weitere physische Phänomene auftreten wie zum Beispiel ein Schaudern, Empfindungen von Prickeln, Pulsieren oder Vibrieren, die Empfindung, zu schweben, sehr gross oder sehr klein, sehr schwer oder sehr leicht zu sein oder Empfindungen grosser Wärme oder Kälte in verschiedenen Körperpartien.

Starke Gefühle können auch zu einem körperlichen Entladen in Form von Zittern, Zucken, Schütteln oder anderen unwillkürlichen Bewegungen führen.

 

Intensive Sinneseindrücke:

Es ist möglich, während der Meditation visuelle Phänomene wie zum Beispiel Farb- und Lichtwahrnehmungen trotz geschlossener Augen und sogar in dunklen Räumen zu erleben.

Bei manchen Meditierenden entstehen sehr lebhafte Bilder vor dem inneren Auge (sowohl Erinnerungen als auch noch nie zuvor Gesehenes), wobei es sich hierbei wohl um eine Schnittstelle zwischen visuellen und gedanklichen Phänomenen handelt.


Auch auditive Phänomene sind möglich: Es gibt Meditierende, die trotz der um sie herrschenden Stille Klänge oder Worte hören.


Andere wiederum nehmen Gerüche und Geschmäcker wahr – auch wenn diese ausserhalb des Erlebens dieser Meditierenden nicht nachweisbar sind. 


Veränderte Wahrnehmung von Zeit und Raum:

Während der Meditationen kann jegliches Gefühl für Zeit und Raum abhandenkommen, oder Zeit und Raum werden anders als auf die gewohnte Art und Weise wahrgenommen. Zum Beispiel kann der Eindruck eines zeitlosen Gegenwärtigseins oder das Gefühl, in einem unendlichen Raum zu verweilen, entstehen.

  

Starke angenehme Gefühle: 

Auch intensive angenehme Gefühlszustände wie zum Beispiel Dankbarkeit, reife, bedingungslose Liebe, Verbundenheit mit allen Lebewesen, Freude, Frieden, Gleichmut, Harmonie, Klarheit oder Zuversicht sind keine Seltenheit in Meditationen und können auch danach noch einige Zeit, mitunter sogar für Stunden, auf der geistigen und / oder körperlichen Ebene nachklingen.

 

Starke unangenehme Gefühle: 

Ebenso können starke unangenehme Gefühle wie zum Beispiel Verzweiflung, Hilflosigkeit, Sinnlosigkeit, Angst, Trauer, Einsamkeit, Wut, Widerstand oder Ablehnung auftreten und auch nach der Meditation auf den Gemütszustand und / oder das körperliche Erleben einwirken.

 

Leerheit:

Beim Meditieren kann ein Gefühl innerer Leerheit entstehen. (Auch hier finden wir eine paradoxe Komponente: Die empfundene Leerheit ist ein Gefühl der Abwesenheit von Gedanken und Gefühlen.) Manche Menschen empfinden diese Leerheit als beunruhigend, andere wiederum erleben sie als entspannend.

 

Erinnerungen: 

Während der Meditation können prägende Erinnerungen hochgespült werden. Deren Inhalte können neutraler, angenehmer, unangenehmer oder gemischter (angenehmer und unangenehmer) Natur sein. 

Es werden während des Meditierens tiefgreifende Verarbeitungsprozesse – gewissermassen eine innere Reinigung – in Gang gesetzt. Diese Prozesse sind manchmal schmerzhaft.

 

Loslösung von alten, nicht (mehr) dienlichen Mustern:

Das kontinuierliche, urteilsfreie Beobachten der sich während der Meditation anbietenden gegenwärtigen Erfahrungen sowie das Nicht-Einsteigen auf Gedankenimpulse führen bei regelmässigem Meditieren dazu, dass alte, nicht dienliche Muster – unheilsame Programmierungen – losgelassen werden können, was zu umsichtigerem, achtsamerem Agieren und Reagieren im Alltag führt.

 

Tiefgreifende Einsichten:

Meditierende machen mitunter tiefgreifende Einsichtserfahrungen, die ihnen auch nach der Meditation zur Verfügung stehen. Derartige Einsichten gehen über das kognitive Verständnis, über das pure Nachvollziehen eines Sachverhaltes hinaus; es steckt ein tiefes, transformierendes, vollumfängliches Verstehen dahinter. Dazu gehören zum Beispiel:

  • die Einsicht über die Vergänglichkeit aller Phänomene (der Körperempfindungen, Gedanken, Gefühle, aber auch des Körpers an sich und aller Objekte),
  • die Einsicht über die Natur des Leidens, das unter anderem aus dem Versuch, dauerhaftes Glück in Vergänglichem zu suchen, resultiert,
  • die Einsicht, dass es kein «Ich» in Abgrenzung zu «den anderen» gibt, sondern dass alles aufs Engste miteinander verwoben und voneinander durchdrungen ist,
  • die Einsicht, dass alle Konzepte und Vorstellungen hinfällig sind (sogar die Vorstellung der Vergänglichkeit).

 

Die zuvor beschriebenen Nebeneffekte von Meditationen bergen gewisse Gefahren. Die häufigsten davon seien im Folgenden genannt und beschrieben:

 

🛑 Gefahr der Überinterpretation: 

Die Nebeneffekte – insbesondere die angenehmen – werden als persönliche Erfolge, gewissermassen als «Meilensteine auf dem Weg zur Erleuchtung», angesehen.  Dies kann zu Überheblichkeit und Selbstüberschätzung führen, im Sinne von: «Ich kann besonders gut meditieren / besser meditieren als andere.»

Visuelle, auditive, olfaktorische, gustatorische oder somatosensorische Phänomene werden überinterpretiert und als Visionen oder Vorhersehungen betrachtet.

 

🛑 Gefahr der Überforderung:

Intensive (neutrale, angenehme, unangenehme oder gemischte) körperliche Phänomene, Sinneseindrücke oder Gefühle, das wiederholte Durchleben prägender Erinnerungen oder tiefgreifende Einsichten können zu Überforderung führen.

 

🛑 Gefahr der Anhaftung: 

Angenehme Körperempfindungen, intensive Sinneseindrücke, Wohlgefühle oder faszinierende Erkenntnisse können den Wunsch aufkommen lassen, immer wieder derartige Erfahrungen machen zu wollen. Das absichtslose Meditieren mit der grösstmöglichen Offenheit wird dadurch erschwert oder gar verunmöglicht.

 

❇️ Empfohlener Umgang mit Nebeneffekten:

Bitte seien Sie sich bewusst: In erster Linie sind alle nebst dem Hauptziel der Achtsamkeitsmeditation, dem Entwickeln und Vertiefen von Achtsamkeit, auftretenden Phänomene Nebeneffekte. Diese Nebeneffekte – mögen sie noch so wohltuend oder faszinierend sein – sind nicht das Ziel, und darum sollte Ihr Hauptfokus beharrlich und unbeirrt beim Hauptziel verweilen; beim Trainieren der Fähigkeit zu Achtsamkeit.


Sie haben die Wahl, wie Sie mit intensiven Nebeneffekten, welcher Natur auch immer, umgehen möchten. Es bieten sich folgende Möglichkeiten an:

  • Sie können die Phänomene aus der nicht involvierten, nicht wertenden Beobachterrolle mit Offenheit und Neugier erforschen. Öffnen Sie sich ganz für das Wahrzunehmende, machen Sie sich gewissermassen «durchlässig» dafür, ohne an einer Erfahrung anzuhaften.

  • Wenn Sie sich einem auftretenden Nebeneffekt nicht direkt zuwenden wollen, beispielsweise, weil er Ihnen sehr unangenehm ist, so können Sie sich stattdessen bewusst im Körper verankern. Wählen Sie dazu eine für Sie gut spürbare Körperstelle oder aber durch die Atmung hervorgerufene Körperempfindungen und halten Sie den Hauptfokus stabil auf diesen, während Sie mit peripherem Gewahrsein*, also gewissermassen «aus den Augenwinkeln», beobachten, wie sich der Nebeneffekt vielleicht weiter entfaltet oder aber langsam verebbt. Verankern Sie sich in der Absicht, sich in stetiger Selbstzuwendung und -fürsorge zu üben, und nehmen Sie auch Ihre Befindlichkeit mithilfe des peripheren Gewahrseins wahr, um jederzeit einschätzen zu können, ob Sie weiterhin mit dem Nebeneffekt umgehen können und wollen.

  • Brechen Sie die Meditation ab, wenn Sie merken, dass Sie nicht (länger) mit dem Nebeneffekt umgehen können oder wollen. Es ist ein Zeichen tiefer Achtsamkeit, wenn Sie einen Vorgang beenden, dem Sie sich nicht gewachsen fühlen – und genau diese Achtsamkeit ist das Hauptziel der in diesem Buch beschriebenen Übungspraxis! 

 

Scheuen Sie sich nach intensiven Meditationserfahrungen nicht davor, Anregungen bei einer erfahrenen Meditationslehrperson und / oder Unterstützung bei einer therapeutisch geschulten Fachperson zu holen.

Zum Schluss dieses Blogeintrags möchte ich betonen: Sie sind, wenn es um den Umgang mit den genannten Nebeneffekten geht, jederzeit frei und dem Geist daher weitaus weniger ausgeliefert, als es manchmal beim Auftreten eines Nebeneffektes den Anschein hat. Sie können wählen, wie Sie mit einem Nebeneffekt umgehen und welche Bedeutung Sie ihm zumessen wollen!






*Begriffserklärung: peripheres Gewahrsein

Bei formellen und informellen Achtsamkeitsübungen wird das Aufrechterhalten der urteilsfreien Bewusstheit im gegenwärtigen Moment trainiert. Das periphere Gewahrsein unterstützt Praktizierende in diesem Bestreben, indem es gewissermassen als Alarmsystem fungiert: Während der Hauptfokus beispielsweise auf einem Meditationsobjekt oder einer Tätigkeit im gegenwärtigen Moment ruht, kann der / die Praktizierende dank des peripheren Gewahrseins wahrnehmen, welche Prozesse sich in den Randgebieten des Erlebens, also ausserhalb des gezielt gesetzten Hauptfokus, abspielen. Bahnt sich ein Abschweifen an (zum Beispiel ein gedankliches Narrativ oder das Verschieben des Fokus auf eine andere als die gewählte Körperstelle), so kann dieses bei gut entwickeltem peripherem Gewahrsein frühzeitig erkannt werden, so dass der / die Praktizierende sich (wieder) für Achtsamkeit entscheiden und den Hauptfokus stabil halten oder wieder stabilisieren kann. 

Durch regelmässiges Meditieren wird das periphere Gewahrsein gestärkt.