Entscheidungen treffen

Von der Qual der Wahl 

Zu viele Auswahlmöglichkeiten machen den Menschen unglücklich. Die Forschung spricht vom sogenannten »Overchoice-Effekt« (Beck, 2019); dem Problem der Auswahlüberlastung. 
Weshalb die Vielzahl an Varianten den Menschen unglücklich macht, ist noch nicht abschliessend erforscht; möglicherweise führt die Fähigkeit unseres Hirns, auch nach dem Treffen des Entscheids Alternativen immer und immer wieder durchzuspielen, zu Verunsicherung und Unzufriedenheit (Beck, 2019). Die Problematik erfährt offenbar eine Abmilderung, wenn der Entscheid irreversibel ist; die unwiderruflich verlorenen Alternativen vermögen weniger zu locken. Doch aus der Irreversibilität kann sich natürlich auch ein Hadern entwickeln, wenn der Entscheid im Nachhinein falsch scheint. 

Bauchgefühl oder Rationalität? 

»Should I Stay or Should I Go?«
[The Clash]

Ein urmenschliches Problem: Was sagt der Bauch? Was sagt der Kopf? Und gilt es nun, die Intuition zu priorisieren oder doch eher die Rationalität? Oder ganz einfach ausgedrückt: Was zur Hölle soll ich tun?

Ohne Gefühle können wir keine Entscheidungen fällen. Eindrücklich ist in diesem Zusammenhang die Geschichte des Patienten Elliot, dem 1982 ein Hirntumor entfernt wurde. Dabei wurde offenbar ein Teil des Hirns in Mitleidenschaft gezogen, der für die Entstehung der Emotionen zuständig ist. Es zeigte sich, dass der Patient entscheidungsunfähig geworden war; er konnte beispielsweise stundenlang vor dem Radio sitzen und sich nicht für einen Sender entscheiden (Heinrich, 2011). Heinrich et al. schreiben »Ohne Gefühl ist der Verstand hilflos.«
Soll man also ausschliesslich auf den Bauch vertrauen?
Nein: Der Psychologe Daniel Kahnemann (vergleiche Heinrich, 2011) zeigt auf, dass wir uns erstaunlich leicht von Vorurteilen, Assoziationen und Ängsten leiten lassen.

Also: Sowohl die Argumente des Verstandes als auch die Intuition haben ihre Berechtigung! Daher ergibt es Sinn, beidem bei Entscheidungsfindungen den berechtigten Platz einzuräumen. 

Entscheidungen treffen: Tipps und Tricks 

Mit manchen Entscheidungen tun wir uns furchtbar schwer. Oft handelt es sich dabei um Entscheidungen, die uns sehr einschneidend und lebensbestimmend scheinen (z.B.: Kinder: ja / nein?, Partnerwahl, Berufswahl, Projekt Hausbau, usw.).
Folgende Vorgehensweisen helfen mir jeweils beim Treffen von Entscheiden:
 
1. Ruhe und Meditation:
Liegt mir ein zu fällender Entscheid schwer auf dem Magen, bedinge ich mir wenn möglich Zeit aus, um mich zur Meditation zurückzuziehen. (Weiter unten folgen Überlegungen zum Thema »Entscheiden unter Stress«.)
Beim Meditieren lege ich den Fokus auf die Atemempfindung, bis sich die Gedanken beruhigt haben. In den gesetzten, stiller gewordenen Geist hinein gebe ich die Frage, über die es zu entscheiden gilt. Die dann aufkommenden Gedanken und Gefühle liefern mir wertvolle Hinweise – sowohl über die in mir vorherrschenden Tendenzen als auch über mein Entscheidungsverhalten.
Während der Meditation treffe ich jedoch meist noch keinen Entscheid; ich schaffe lediglich Raum für Achtsamkeit im weiteren Prozessverlauf und für bewusstes Agieren.

2. Ausschluss- oder Pro-Contra-Liste: 
Je nach Thema erstelle ich basierend auf den Eindrücken aus der Meditation eine Ausschlussliste. Darauf wird vermerkt, was ich auf keinen Fall möchte. Das Ausschlussverfahren ist ein indirekter Weg, der mir dabei helfen kann, meine Wünsche herauszuschälen. 

Entscheidungen treffen

Auch eine Pro-Contra-Liste kann helfen. Die Komplexität kann dabei je nach Thematik variieren von einer einfachen Aufstellung bis hin zu einer Entscheidungsmatrix mit Gewichtung.
Beispiel: Wenn Sie mit Ihrem aktuellen Job nicht vollends zufrieden sind und ein interessantes Jobangebot erhalten oder sich durch ein Bewerbungserfahren gekämpft haben, nun aber nicht sicher sind, ob Sie Ihren alten Job tatsächlich an den Nagel hängen sollen, kann eine Entscheidungsmatrix unter Miteinbezug der für Sie wichtigen Werte hilfreich sein. Dabei können sowohl rationale Argumente miteinbezogen werden (z.B. ein Lohnrechner https://www.lohnrechner.ch/) als auch das Bauchgefühl (z.B. Ersteindrücke vom neuen Team). Bemerkungen in der Tabelle helfen, die Punktevergabe zu präzisieren. 
Eine derartige Entscheidungsmatrix könnte folgendermassen aussehen (fiktives Beispiel): 

Entscheidungen treffen

Die Entscheidungsmatrix ist jedoch nur ein Hilfsmittel und nimmt Ihnen den Stichentscheid nicht ab – vielleicht ergibt es Sinn, sich trotz der höheren Punktzahl schlussendlich gegen das neue Jobangebot zu entscheiden, weil Sie beispielsweise realisieren, dass Sie aktuell die Energie für eine Einarbeitungsphase nicht aufbringen können, da der Umzug Ihrer Mutter ins Pflegeheim ansteht oder Ihr Kind im Prozess der Lehrstellensuche Ihrer Hilfe bedarf.
 
3. Fremdeinschätzungen einholen:
Unsere Liebsten steckten möglicherweise bereits in einer ähnlichen Situation und mussten ebenfalls eine einschneidende Entscheidung treffen. Inputs von Aussen können unseren Blickwinkel erweitern – insbesondere, wenn uns das Gegenüber gut kennt und uns spiegeln kann, wie er / sie uns von aussen erlebt.
Diesem dritten Schritt messe ich grossen Wert bei; bei einigen bisher getroffenen Entscheiden hat mir der Austausch mit Freunden zusätzliche wertvolle Hinweise geliefert und schliesslich den getroffenen Entschluss breiter abzustützen vermocht.
Dabei gilt es nicht unbedingt, den Rat der Liebsten zu befolgen; sinnvoll ist meines Erachtens, die zusätzlichen Informationen in den Entscheidungsprozess miteinzubeziehen, ohne sich unter Druck oder Bevormundung zu fühlen. Ein Entscheid gegen den Rat der Liebsten kann manchmal auch weise sein – immerhin ist er bewusst und unter Miteinbezug der Aussenperspektive getroffen worden.

4. Geduld und erneute Konfrontation mit dem Entscheid: 
Manchmal durchlaufe ich die drei oben genannten Stadien und fühle mich, als wäre ich keinen Schritt weiter. Oder aber als würde mich die sorgsam erarbeitete, umfangreiche Auslegeordnung der Pro- und Contra-Argumente jetzt erst recht erschlagen. Gefühl und Verstand mögen sogar noch immer im Widerstreit liegen. Meist bin ich aber trotz dieser Empfindungen durch die Auseinandersetzung mit dem Für und Wider einen entscheidenden Schritt weiter gekommen. 
In solchen Fällen durchlaufe ich die beschriebenen Schritte bewusst erneut. Nicht im Sinne eines Im-Kreis-Drehens; ich erlebe das erneute Meditieren über dem Entscheid als aufwärtsführende Spiralbewegung, die mich näher an Klarheit und einen definitiven Entschluss bringt. In einer neuerlichen Meditation kann ich mich beispielsweise folgenden Fragen widmen: Bei welchen Punkten klaffen Bauchgefühl und rationale Argumente auseinander? Und warum? Wie kommen meine Gewichtungen zustande? Welche Werte habe ich und inwiefern spiegeln sie sich in meinen Entscheidungstendenzen? 
 

Die perfekte Strategie gibt es nicht – aber mit Achtsamkeit liegen Sie nicht verkehrt 

Trotz dieser Ausführungen glaube ich, dass es kein allgemeingültiges Rezept gibt, um Verstand und Bauchgefühl in Einklang zu bringen oder um einen »perfekten« Entscheid zu treffen.
Zudem gewinnen manche Entscheidungen an Komplexität, wenn Partner*in und / oder Kinder oder aber Geschäftskolleginnen und –kollegen involviert sind: Nach dem Fassen eines Entschlusses gilt es, sich mit diesen Personen abzusprechen, Sichtweisen abzugleichen und Überlegungen darzulegen. Nicht selten verzögert und verkompliziert sich dabei der Entscheidungsvorgang. Manchmal wird man gar auf Feld eins zurückgeworfen.
 
Aber: Wenn Sie offen und bewusst bleiben und Ihren Entscheidungsprozess mit einer Haltung von Achtsamkeit begleiten, wird für Sie der beschrittene Weg und das Zustandekommen eines Entschlusses langfristig nachvollziehbar sein. Sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber können Sie bei Bedarf Ihre Denkprozesse und alle Entscheidungsgrundlagen darlegen.
Sie entwickeln dabei auch ein Verständnis für sich selbst, das Ihnen Boden gibt, sollten sich bei der Umsetzung eines Entscheides Schwierigkeiten auftun.
Nicht zuletzt lernen Sie durch achtsames Entscheidungsverhalten, künftige Entscheidungen noch bewusster zu treffen und Ihren Bedürfnissen mit Wertschätzung zu begegnen. 
 
Ich bin überzeugt: Wer sich selbst gut kennt, trifft passendere Entscheidungen als jemand, der seine Denkprozesse, Gefühlstönungen und Bedürfnissen nicht oder nur am Rande wahrnimmt. 
 

Entscheiden unter Stress 

In stressigen Situationen wird unsere Fähigkeit zu denken und somit zu entscheiden, reduziert. Der Körper schüttet Stresshormone aus, unser Herzschlag wird schneller und arhythmisch, und wir treten in den Modus von Fight (Kampf), Flight (Flucht) oder Freeze (Erstarrung) ein. Unsere Reflexe übernehmen das Steuer. 
Was ein Segen bei akuter (Todes-)Gefahr sein kann, kann im Alltag zum Fluch werden: Das Treffen von umsichtigen Entschlüsse wird erschwert, wenn nicht gar verunmöglich. Gerade diese sind jedoch gefragt, wenn wir beispielsweise im Büro des Vorgesetzten stehen und mit einer Herausforderung (zwischenmenschlich oder fachlich) konfrontiert werden, die kluges Argumentieren erfordert. 
 
Achtsamkeit hilft uns dabei in zweierlei Hinsicht: 

  • 1. Bei Personen, die täglich über Monate hinweg Achtsamkeit praktizieren, verringert sich die Ausschüttung von Stresshormonen messbar (vergleiche Creswell, 2017). Dies bedeutet, dass Achtsamkeitspraktizierende weniger schnell in den Fight-Flight-or-Freeze-Modus fallen – die Entscheidungsfähigkeit bleibt ihnen auch in herausfordernden Situationen länger erhalten. 
  • 2. Wer Achtsamkeit praktiziert, erwirbt die Fähigkeit der differenzierten Selbstwahrnehmung. Mit der nötigen Übung werden Sie sogar unter Druck Ihre Befindlichkeit bewusst wahrnehmen können und mittels einfacher, nur wenige Sekunden oder Minuten dauernden Übungen aus dem Fight-Flight-or-Freeze-Modus austreten können. Eine derartige Übung ist beispielsweise das Herstellen von Herzkohärenz. Eine Anleitung dazu finden Sie hier: Herzkohärenz 

 
Sie dürfen sich bewusst sein: Auch mit knappen Zeitressourcen ist es möglich, Entscheidungen umsichtig zu treffen. Achtsamkeitsübungen, wie im MBSR-Kurs gelehrt, helfen Ihnen, Ihre Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse und die äusseren Umstände bewusst wahrzunehmen. 
Und vielleicht können Sie sich ja doch noch etwas mehr Zeit verschaffen, beispielsweise indem Sie Ihr Gegenüber um Bedenkfrist bitten. 

Den Mut fassen, auch unbeliebte Entscheidungen zu treffen 

»Everybody's Darling, everybody's Depp.« Irene Becker warnt vor der »Harmoniefalle«. In der Tat kann es Sinn ergeben, immer mal wieder Entscheidungen zu treffen, die nicht gesellschaftskonform sind.
Bei Heinrich (2011) wird dabei von »autonomen Werturteilen« gesprochen: Der oder die Entscheidende tut etwas, das im Widerspruch zum Handeln der Mehrheit steht. Derartige Entscheidungen schaffen natürlich sozialen Druck. Doch sie brauchen keine Belastung zu sein: Wer zu sich und seinen Werten steht und Entscheidungen fällt, die ihm oder ihr richtig und ethisch vertretbar scheinen, wird auch Entlastung erfahren.

Achtsamkeit schafft dabei Raum für die Erkenntnis, dass wir zu jedem Zeitpunkt frei sind: Unser Umfeld und unsere Vergangenheit brauchen uns nicht zu determinieren. 
Wenn Sie sich und Ihr Leben bewusst und aus Distanz betrachten, können Sie der äusseren Einflüsse und eingeschliffener Verhaltensmuster und Denkstrukturen gewahr werden. 
 

Fehlentscheid – Was tun? 

Manche bereuen gewisse Entscheide ein Leben lang – selbst wenn dem Entschluss sorgfältiges Abwägen vorangegangen ist. Studien zeigen: Reue kostet uns Energie (Heinrich, 2011). Der emotionale Stress, der dabei durch die negativen Gefühle ausgelöst wird, kann sogar unser Immunsystem schwächen. 
Was tun, um nicht in eine auslaugende Negativspirale zu gelangen? 

  • 1. Achtsamkeit hilft Ihnen, sich Ihrer Gefühle und Gedanken bezüglich der Konsequenzen Ihres Entscheides bewusst zu werden. 
  • 2. Die Bewusstwerdung ist dabei Dreh- und Angelpunkt: Durch sie wird Raum geschaffen für die Disidentifikation. Die Erkenntnis, dass Gedanken nur Gedanken sind und nicht unbedingt die Realität abbilden oder stellvertretend für unser gesamtes Sein stehen, kann enorm hilfreich sein. 
  • 3. Disidentifikation ermöglicht Loslassen. Das unbeeindruckte Konstatieren »Ach so, schon wieder dieser Gedanke!« führt mit der Zeit zu Akzeptanz und Friede.
    Sie dürfen sich auch vor Augen führen: Manche Psychologen proklamieren gar, dass es keine Fehlentscheidungen gibt (Heinrich, 2011). In diesem Augenblick, indem Sie sich für oder gegen etwas entscheiden, haben Sie gute Gründe dafür. Begegnen Sie sich und Ihrem Entscheid mit Milde! Vielleicht hilft Ihnen dabei auch die Frage: Welche Umstände / Gründe haben dazu beigetragen, dass Sie diesen Entscheid getroffen haben? Welche Veränderungen haben sich ergeben, dass Sie nun mit dem Entscheid unglücklich sind? Nicht selten wird Ihnen auffallen, dass die Vorhersehbarkeit der Konsequenzen für Sie aufgrund Ihrer Lebensumstände, Befindlichkeit oder mangels gewisser zusätzlicher Informationen zum Zeitpunkt der Entscheidfällung so nicht gegeben war. Und woher wollen Sie wissen, ob Sie mit einem anderen Entschluss glücklicher geworden wären? 
  • 4. Loslassen eröffnet neue Perspektiven. Plötzlich wird Raum geschaffen für einen konstruktiven Umgang mit dem (vermeintlichen) Fehlentscheid. Vielleicht kann gar aus Unangenehmem Gutes erblühen. 
  • 5. Und: Manche Entscheidungen sind nicht in Stein gemeisselt! Manchmal kann man das Steuer nochmals herumreissen; sich umentscheiden. Natürlich ist nicht selten ein gewisser Aufwand damit verbunden, aber ganz ehrlich: Wollen Sie sich tatsächlich jahrelang über sich und Ihre Wohnsituation ärgern, nur weil Sie zum Zeitpunkt der Einwilligung in das Mietverhältnis nicht um den vom Vermieter in Schutz genommenen Nachbarn wussten, der sich gerne zu jeder Uhrzeit ausgiebigem Trompetenspiel widmet? Come on! 

 
Quellen: