Yoga - der Gleichmacher

Die Plätze im Yoga-Studio füllen sich. Unter den Teilnehmenden befindet sich eine erfolgreiche Firmengründerin. Sie trägt ein ausgewaschenes Rolling-Stones-T-Shirt, und wenn sie mir nicht von ihrer Firma erzählt hätte, würde ich ihre berufliche Position niemals erraten können. Ein IT-Spezialist, eine Schülerin, eine Hausfrau und Mutter, ein Rentner – diese Menschen, die in verschiedene berufliche und familiäre Strukturen eingebettet sind und in verschiedenen Alters- und Lebensphasen stecken, begeistern sich gleichermassen für Yoga.

Im Yoga verblassen private und berufliche Situationen vor der Wichtigkeit des In-Kontakt-Kommens mit Körper und Geist im jeweiligen Moment. Im Yoga sind wir – unabhängig von unserem Ausbildungsstand, Status oder gesellschaftlichen Erfolg – stets Anfänger:innen; Gegenwärtigkeit kann man nicht auf Vorrat horten. Man kann auch nicht gegenwärtiger sein als gegenwärtig. In unserer Gegenwärtigkeit gleichen wir einander unabhängig von unserer Einzigartigkeit wie eineiige Mehrlinge. In jedem Moment beginnen wir alle von neuem, Körper und Geist zu erfahren und erforschen; in jedem Moment treffen wir uns alle an der Basis.

Herrlich erfrischend ist, dass sich das mittlere Kader in der Regel nicht durch besonders präzise Ausführungen von herauf- und herabschauendem Hund hervortut. Kindergartenlehrpersonen bevorzugen nicht unbedingt die Haltung des Kindes. Die KV-Allrounder:innen können nicht gezwungenermassen den Kopfstand, Models nicht den Pfau und Rentner:innen nicht die liegende Katze. Im Yoga sind wir niemand Bestimmtes und brauchen auch nichts und niemanden zu verkörpern. Es gibt keine Gewinner und Verlierer, kein Oben und Unten, kein Besser und Schlechter. Dasein und Sosein reichen vollends.

Yoga bedeutet, wahrzunehmen, was in der heutigen Lektion, in diesem jetzigen Augenblick an innerer und äusserer Ruhe und innerer und äusserer gezielter, bewusster Bewegtheit möglich ist und sich immer wieder von neuem in kraftvoller Behutsamkeit nach der inneren Landschaft und den körperlichen Gegebenheiten zu richten.

Yoga ist ein Gleichmacher, der die Einzigartigkeit jedes Individuums in jedem einzelnen Moment miteinbezieht.