Welche Ethik liegt der Achtsamkeit zugrunde?

Die Stimmen der Kritiker:innen und Befürworter:innen der Achtsamkeitspraxis

Kritiker:innen der westlichen Achtsamkeitsbewegung bemängeln unter anderem die Loslösung der Achtsamkeit aus jeglichem ethischen Kontext. Achtsamkeit könne dadurch nicht nur bis in die Sinnlosigkeit von der ursprünglichen buddhistischen Ethik entfremdet, sondern sogar regelrecht gefährlich werden.

Befürworter:innen hingegen sind der Meinung, dass der buddhistische Grundgedanke, das Streben nach Verringerung von Leid oder zumindest die Absicht, nicht zusätzliches Leid zu verursachen, implizit in allen Achtsamkeitsübungen mitschwingt.

Ich gehe noch weiter als die oben genannten Befürworter:innen und sage: Wer achtsam lebt, lebt auf ethisch vertretbare Weise. Zumindest dann, wenn Achtsamkeit ganzheitlich aufgefasst wird, denn: Die Sichtweise der Kritiker:innen kann ich nur zu gut nachvollziehen!

Missbrauch des Achtsamkeitsbegriffs

Lassen Sie uns zwei abschreckende Beispiele anschauen, die verständlicherweise Wasser auf die Mühle der Kritiker:innen sind:

  • Manche der westlichen «Achtsamkeitsbewegungen» nutzen einzelne Übungen, um das Individuum zu optimieren. Es soll zum Beispiel lernen, in seinen Stress hineinzuatmen, damit es möglichst lange in einem ungesunden Arbeitsumfeld unnütze oder gar schädliche Produkte generieren und für die Firma Ertrag erwirtschaften kann. 


  • In den USA werden manche Scharfschützinnen und -schützen in Achtsamkeit unterrichtet («mindful sniper»), um die Trefferquote zu erhöhen. Es geht darum, dass die Schiessenden den eigenen Herzschlag spüren, den Atem kontrollieren und die Umgebung konzentriert wahrnehmen können.

 

Aber ist das wirklich Achtsamkeit? Sind das nicht einfach Übungen zur Stressbewältigung und zur Erhöhung der Konzentration? Geht es nicht in beiden Beispielen darum, Menschen zu optimieren, statt Menschen in Verbindung mit ihrem natürlichen Sein und ihrer stets gegebenen Ganzheit treten zu lassen?

So, genug der rhetorischen Fragen! Ich möchte mich ganz klar, bewusst und absichtsvoll positionieren, wenn es um die Ethik von Achtsamkeit geht:

Derartige Auswüchse – das «achtsame» Zutode-Schuften und das «achtsame» Töten – resonieren nicht mit meiner Auffassung von Achtsamkeit. Und Lehrpersonen, die derartige Übungen unterrichten und anleiten, sind meines Erachtens keine Lehrenden, die selbst in der Achtsamkeit verwurzelt sind. Ich bezeichne die Nutzung von einzelnen Aspekten der Achtsamkeit zur Optimierung von Individuen zugunsten eines nicht über alle Zweifel erhabenen Systems als «Schein-Achtsamkeit» und stimme den Kritiker:innen zu: Das kann gefährlich sein.

Eine ganzheitlich gelebte Achtsamkeit hingegen ist äusserst heilsam für uns, unsere Liebsten, ja für die ganze Welt.

Das Bewusstsein der Achtsamkeit ist auch ein Verantwortungsbewusstsein

Achtsamkeit nimmt uns in die Pflicht. Mit dem Wachsen unserer urteilsfreien, gegenwärtigen Bewusstheit wächst auch unsere Verantwortung. Ich denke dabei an die Worte von Stan Lee: «Aus grosser Kraft folgt grosse Verantwortung». (Zugegeben: Spiderman verhält sich nicht immer moralisch einwandfrei. Aber das ist eine andere Geschichte. 😅) In Bezug auf die Achtsamkeit gilt: Achtsamkeit ist eine grosse Kraft, und aus Achtsamkeit folgt grosse Verantwortung. 

Wer ein Leben in Achtsamkeit, in wertungsfreier Bewusstheit führt, führt ein ethisches vertretbares Leben. Wer in tiefem Kontakt zu seinem Körper, seinen Gedanken und seinen Gefühlen steht, kann in tiefen Kontakt zu seiner Umwelt treten. Solch ein Mensch weiss um das Verwoben-Sein allen Lebens; solch ein Mensch weiss, dass es kein «Ich» in Abgrenzung zu «den anderen» gibt. Auf dieser Welt ist keine Isolation möglich; alles ist miteinander verbunden! 

Eine ganzheitlich gelebte Achtsamkeit meint, auf eine Art und Weise präsent zu sein, die um unsere Teilhabe an allem in der Welt weiss. Wir sind Teil von allem. Das mag uns demütig werden lassen: Achtsamkeit ruft nach einem möglichst sorgsamen Umgang mit allem. Mit uns, mit unseren Mitmenschen, ja, mit allen Lebenwesen und allen Ressourcen dieser Welt. Das ist eine grosse, vielleicht sogar abschreckende Verantwortung, aber das Gute ist: Wir müssen nicht perfekt sein; das tiefe, aufrichtige Bemühen ist Weg und Ziel zugleich. Wer sich Tag für Tag unermüdlich um Achtsamkeit bemüht, tritt in einen lebenslangen, liebevollen, sinn- und friedensstiftenden Dialog mit sich und der Welt.

Die Kompassnadel zeigt Richtung Mitgefühl

Wenn wir uns in Bauchlage niederlegen, den Griff des Scharfschützengewehrs an Schulter und Wange pressen, ein Auge schliessen, mit dem anderen durch das Zielfernrohr schauen, zielen und dann abdrücken, erschiessen wir einen Menschen – und uns selbst. Mit jedem Leben, das wir nehmen, töten wir uns selbst. Ebenso, wie wir uns mit jeder Ressource, die wir sinnlos verschleudern, selbst um eine wichtige Ressource berauben. Mit jedem harschen Wort an einen Mitmenschen reissen wir eine klaffende Wunde in unser Herz. Mit jeder vollbrachten Boshaftigkeit vergrössern wir unseren eigenen Schmerz und unser eigenes Leid. Weil wir Teil von allem sind.

Wir müssen gewaltfreie Lösungen finden – auch wenn sich dies manchmal schwierig gestaltet vor dem Hintergrund der moralischen Dilemmata dieser Welt. Was tut man mit einem Menschen, der Dutzende von anderen Menschen in den Tod reissen will? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass wir, wenn wir diese Person erschiessen, auch uns erschiessen. Wir müssen andere Lösungen finden, um sie von ihrer Tat abzubringen. Wir müssen, wenn wir nicht unser Menschsein bis in die tiefsten Tiefen jeder unserer Zellen verraten wollen.

Unsere Achtsamkeit trägt zur Lösung bei:
In einer Welt, in der die urteilsfreie Bewusstheit wächst, nimmt die Gewalttätigkeit ab. Indem wir selbst möglichst oft bewusst denken, reden und handeln, leisten wir einen wichtigen Beitrag dazu, dass weniger Leid auf dieser Welt entsteht. Unsere Bewusstheit macht einen Unterschied für das Leben aller. Unsere Bewusstheit kann die Bewusstheit in anderen berühren und zum Erwachen bringen. 

Wenn wir bewusst werden, beginnen Freundlichkeit, Fürsorge, tiefes Mitgefühl und Liebe in unserem inneren Garten zu wachsen. Die Bewusstheit, die wir in uns kultivieren, ist eine Einladung an die Bewusstheit jeden Gegenübers, sich ebenfalls zu zeigen. Durch unsere Bewusstheit können unsere Kinder in Bewusstheit hineinwachsen. Unsere Bewusstheit trägt zum Aufbau einer bewussteren Gesellschaft bei.

Wenn wir achtsam sind, wird die Nadel unseres moralischen Kompasses nie Richtung Gewalt zeigen. Unsere Kompassnadel wird von Liebenswürdigkeit angezogen. Wir lösen uns von unseren Verstrickungen und erkennen die Natur der Dinge und Menschen. In dem Moment, in dem wir tief erkennen und tief bewusst sind, wird jegliche Form von Gewalt obsolet. Auch unser klarstes und deutlichstes Nein wird Zeuge unserer Menschenliebe, trotzdem, obwohl, weil wir den Menschen sehen, der wir und andere sind.

Jede Handlung, die in Bewusstheit ausgeführt wird, ist fern von Boshaftigkeit. Bewusstes Handeln und boshaftes Handeln schliessen einander aus. Natürlich gibt es Menschen, die absichtsvoll Gewalttaten begehen, aber ihre eigenen Motive bleiben ihnen zumeist verborgen. Es ist ein Handeln in Absicht und zugleich ohne jegliche Bewusstheit, denn: Wenn wir dank Bewusstheit die düsteren Tendenzen in uns entdecken, können wir uns niederlassen, sie anschauen, ihnen sagen, dass wir sie sehen und sie mit unserem Dasein und dem tiefen Hinschauen befrieden. Unser Innehalten, unser liebevolles, tiefes Schauen nimmt den Hass, den Zorn, die Ablehnung in uns selbst in den Arm. Dann wird es nicht mehr nötig sein, das Unheilsame in uns nach aussen zu tragen; wir haben es bereits in unserem Inneren aufgelöst. Unser Hinwenden zu all unseren Anteilen, den heilsamen ebenso wie den unheilsamen und allen dazwischen, ist ein respektvolles Verneigen vor der ganzen Welt.