Achtsamkeit und Buddhismus

Kritiker der im Westen praktizierten Achtsamkeitsmeditation monieren oft, Achtsamkeit sei nicht mehr im ursprünglichen ethischen Kontext der buddhistischen Lehren verankert. Sie sei ein verwässertes »Schmalspurprodukt« für gestresste Westler (vgl. auch Blogeintrag zu McMindfulness).

 

Meines Erachtens geht man hier ungebührlich hart mit MBSR- und Achtsamkeits-Lehrenden und –Praktizierenden ins Gericht. Immerhin: In der Ausbildung zur MBSR-Lehrperson spielt die buddhistische Psychologie und Ethik durchaus eine zentrale Rolle!

 

Keine expliziten buddhistischen Lehren im MBSR-Programm

Warum wird der Buddhismus im MBSR-Programm nicht explizit thematisiert? Die Erklärung hierfür ist simpel: Das MBSR-Programm richtet sich an ausnahmslos alle Menschen und möchte daher religionsneutral auftreten: Nicht-Buddhisten sollen keinen Ausschluss erfahren; jede und jeder darf sich willkommen fühlen, unabhängig von der Glaubensrichtung.

 

Auch sind die nachfolgend aufgeführten buddhistischen Lehren nur implizit relevant für den Kurs; Kursbesucher:innen lernen erfahrungsbasiert und benötigen im »Starter Kit« nicht gezwungenermassen Inputs zum »edlen achtfachen Pfad« oder den »vier edlen Wahrheiten«. 

Ein Übermass an Theorie könnte den Kurs zu einer Schulstunde verkommen lassen und die Achtsamkeit zu einem theoretischen Konstrukt. Wichtig sind aber Sie und Ihr Lernen, Ihre Erfahrungen! Ihr Leben mit all seinen – wie es Jon Kabat-Zinn nennt – »Katastrophen« darf Betrachtung und liebevolle Annahme erfahren. Nur so gelingt die Umsetzung von Achtsamkeit im Alltag.

Wer später die buddhistischen Grundlagen vertiefen möchte, darf dies sehr gerne tun. Literaturtipps an Interessierte werden wohl alle MBSR-Lehrende gerne geben.

 

Wenn also der Buddhismus nicht explizit Kursthema ist, was schwingt dann implizit mit? Die folgenden Ausführungen geben einen groben Einblick dazu, vermögen jedoch die buddhistischen Lehren in ihrer ganzen Tiefe und ihrem jahrhundertealten Reichtum nur zu streifen.

 

Was implizit mitschwingt

Dem MBSR-Programm liegt die Ethik zu Grunde, dass wir kein Leid verursachen dürfen, wenn irgend möglich gar Leid verringern sollen. Im Buddhismus wird oft von den »vier edlen Wahrheiten« gesprochen, die das Leid und dessen Auflösung mit Hilfe des »edlen achtfachen Pfades« thematisieren (siehe auch nachfolgende Erklärungen).

 

Was bedeutet dies für Achtsamkeits-Lehrende und –Praktizierende? Wenn wir uns mit Achtsamkeit befassen mit der Absicht, ein geschickterer Börsenmakler oder ein effizienterer Militarist zu werden, haben wir den Zweck der Übung verfehlt.

Wenn wir Achtsamkeit absichtslos in unser Leben einladen, uns aber der Verantwortung bewusst sind (also auch diesbezüglich achtsam bleiben!), die mit einer gesteigerten Wahrnehmung und mehr Selbststeuerung einhergeht, werden wir fähig, in höchstem Masse ethisch zu handeln. Wir lernen beispielsweise, unser Gegenüber besser zu verstehen, nutzen diese Tatsache jedoch nicht dazu, unseren Gewinn zu maximieren, sondern lassen uns auf einen beidseitig bereichernden, nährenden Kontakt ein, der kein Leid verursacht, allenfalls sogar Leid verringert. Wir lernen, unsere Motive zu erkennen, Bedürfnisse wahrzunehmen und dem Gegenüber und uns liebevoll zu begegnen.

Das ist Achtsamkeit mit implizit mitschwingender Ethik; der Ethik von Vermeidung und Verringerung von Leid.

Im Buddhismus spricht man wie bereits erwähnt von den »vier edlen Wahrheiten«; einem wichtigen Konzept über die Entstehung und Auflösung von Leid. Im Folgenden werden die vier Wahrheiten einzeln vorgestellt.

 

Die erste der vier edlen Wahrheiten: über das Leiden

»Wenn wir unsere menschliche Grundsituation ehrlich anschauen, sehen wir Stress. 

Von vereinzelten Momenten der Freude unterbrochen, sehen wir Stress in kleinen Unannehmlichkeiten – der schrillen Stimme eines Nachbarn, Harndrang – wie auch in dem riesigen Leid bedingt durch Krankheiten, Scheidungen und Naturkatastrophen. Ganze Industriezweige haben sich entwickelt, die uns helfen, uns von unserem Elend abzulenken, unsere Frustrationen und Beschwerden abzutöten. […]

Sogar was uns Spass macht, macht uns für Schmerz erst recht anfällig.«

[Kramer, G., 2020]

 

Leid ist permanent Teil unseres Lebens. Immer, wenn wir uns zu uns hinwenden, werden wir einen Schmerz entdecken können; sei es der Schmerz des Weghaben-Wollens oder jenen des Anhaftens. Die Existenz des menschlichen Leidens ist eine universelle Tatsache.


Die zweite der vier edlen Wahrheiten: über die Ursache des Leidens

Buddha sprach von tanhâ, dem »Hunger«, der zu Leid führt. 

Dabei werden Arten des Hungers unterschieden:

  • Hunger nach Lust
  • Hunger nach Werden
  • Hunger nach Vergehen

 

Ersterer zeichnet sich dadurch aus, dass der Mensch nach Lustbefriedigung strebt: gutes Essen, Sexualität,  Lustgewinn durch Sozialkontakte oder ganz allgemein: Er strebt nach der Herstellung angenehmer physischer und psychischer Zustände resp. nach der Vermeidung oder Verringerung von Unangenehmem.

 

Im Hunger nach Werden drückt sich das Bedürfnis nach »Gesehen-Werden« aus: Der Mensch möchte von anderen anerkannt und mit Respekt und Wertschätzung behandelt werden. Dazu gilt es, sich entsprechend darzustellen und in der Welt der Dinge einen gewissen Status zu erreichen. Unersättlich strebt der Mensch danach, seinen Wert durch seine Handlungen und seinen Besitz zu erhöhen.

 

Im Hunger nach Vergehen drückt sich genau das Gegenteil aus: Der Mensch fürchtet sich auch vor dem »Gesehen-Werden«, vor Nähe, vor der Aufdeckung etwaiger Fehler oder vermeintlicher Mängel. Er fürchtet den plötzlichen Wertentzug durch Mitmenschen. Gregory Kramer (2020) schreibt dazu: »Ablehnung ist zwischenmenschlicher Tod.«

 

Jedes Stillen des Hungers führt unweigerlich zu einem Aufflackern von neuem Verlangen; das aktuell Erreichte ist nie genug.

 

Die dritte der vier edlen Wahrheiten: über die Beendigung des Leidens

Gregory Kramer (2020) fragt: »Wie wäre es wohl, mit weniger Hunger zu leben? Wie wäre es wohl, nicht mehr aus dieser zwanghaften Froschperspektive, die unsere Gedanken ausfüllt und unsere Emotionen verklumpt, die Welt zu sehen und andere Menschen zu treffen?«

Das Aufhören des Hungers geschieht laut Buddha schrittweise. 

  •  Loslassen führt zu einem Moment der Freiheit, der ein wichtiger Grundstein für jeden nachfolgenden Moment sein kann. 
  •  Um loslassen zu können, ist es nötig, dass wir unseren Gedanken, Gefühlen, Motiven und Körperempfindungen Aufmerksamkeit schenken. Werden wir fähig, anzunehmen, was sowieso schon da ist, flaut unser Hunger nach Lustgewinn, Gesehen-Werden und Vergehen ab.  
  •  Wenn der Hunger abflaut, wird Friede möglich. 
  •  Ohne Hunger können wir unsere Identität als Konzept begreifen, unsere Glaubenssätze als starre Gebilde.
  •  Andere Menschen werden dann nicht mehr als potenzieller Lustgewinn gesehen.
  •  Weisheit kann sich einstellen. »Weisheit heisst, die Dinge so zu sehen, wie sie im gegenwärtigen Moment tatsächlich sind.« (Kramer, G., 2020, S. 20).

 

Die vierte der vier edlen Wahrheiten: über den Pfad zur Beendigung des Leidens

Im Buddhismus wird vom »edlen achtspurigen Weg / Pfad« zur Beendigung von Leiden gesprochen:

  •  Rechte Ansicht
  •  Rechte Absicht
  •  Rechte Rede
  •  Rechtes Handeln
  •  Rechter Lebensunterhalt
  •  Rechte Anstrengung
  •  Rechte Achtsamkeit
  •  Rechte Konzentration

»Recht« bedeutet in diesem Kontext, dass die genannten Bereiche zu einer Beendigung unseres Leidens führen.

Die acht Bereiche sind eng miteinander verknüpft: Die »Rechte Ansicht« meint ein Verständnis von Ursache und Wirkung – auch in Bezug auf Schmerz, den wir in einem anderen oder in uns selbst auslösen können. 

Die »Rechte Ansicht« führt zum Wunsch, »Rechte Absicht« zu kultivieren; also in Richtung Güte, Loslassen und Mitgefühl zu tendieren. Daraus wiederum resultiert »Rechte Rede« und »Rechtes Handeln«, wie auch das Bedürfnis, seinen Lebensunterhalt auf eine für andere und sich nicht schädigende Art zu bestreiten. Dazu benötigt man permanente »Rechte Anstrengung«; ein sich-Verankern mit den wohlwollenden, heilsamen Absichten. Die Anstrengung ist auch die Basis für »Rechte Achtsamkeit«, die uns dabei unterstützt, die wahre Natur der Dinge klarer wahrzunehmen – hilfreich dabei ist »Rechte Konzentration«. (Kramer, G., 2020)

Achtsamkeit und Buddhismus

Der »edle achtspurige Weg« resp. der »edle achtfache Pfad« ist dabei eher als Spirale denn als gerader Weg zu verstehen: Erhöht sich unsere Achtsamkeit und Konzentration, werden wir fähig, unsere »Rechte Ansicht« noch differenzierter zu kultivieren, was sich wiederum auf die Absicht, die Rede und das Handeln auswirkt.

 

Um die einzelnen Aspekte des Pfades zu kultivieren, empfiehlt sich formelle und informelle Meditationspraxis.

 

Fazit

Wenn Sie meditieren und Achtsamkeit in Ihr Leben einladen, beschreiten Sie bereits den achtfachen Pfad. Sie werden Vertiefung und Bereicherung in Ihrem Leben erfahren. Ihr Umgang mit Schmerz wird sich verändern; Ihr Leid verringert sich. Ihre Verhaltensweisen werden auf das Umfeld abstrahlen; Sie können andere nähren und unterstützen.

Brauchen Sie für die ersten Schritte auf diesem Weg um die vier edlen Wahrheiten oder den achtfachen Pfad zu wissen? Nicht unbedingt.

Kann es Sinn ergeben, sich für eine Vertiefung auf dem Weg hin zu mehr Bewusstheit mit den buddhistischen Wurzeln der Achtsamkeit zu befassen? Unbedingt!

 

Quellen:

  •  Irminger-Weber, Ruedi (2020). Wirkungen und Nebenwirkungen von Meditationen. Referat vom 21.12.2020. Center for Mindfulness: Zürich.
  •  Kabat-Zinn, Jon (2013). Achtsamkeit – Ihre Wurzeln, ihre Früchte. Arbor-Verlag: Freiamt im Schwarzwald.
  •  Kramer, Gregory (2020). Einsichts-Dialog. Weisheit und Mitgefühl durch Meditation im Dialog. Arbor-Verlag: Freiamt im Schwarzwald.
  •  von Allmen, Fred (2010). Buddhismus. Lehren – Praxis – Meditation. Theseus-Verlag: Bielefeld. S. 242ff