Achtsamkeit und Depression
In diesem Blogeintrag sollen Antidepressiva und Achtsamkeitsprogramme nicht gegeneinander ausgespielt werden. Beide Ansätze mögen ihre Berechtigung haben, und als Laie wage ich nicht, zum einen oder anderen oder einer Kombination zu raten.
Dieser Blogeintrag, basierend auf diversen Studien und wissenschaftlichen Erkenntnissen, soll lediglich Denkanstösse liefern und alternative oder zusätzliche Behandlungsmöglichkeiten aufzeigen. Sicherlich ist man am besten beraten, wenn man sich bei akuten oder bereits länger bestehenden Depressionen therapeutische Hilfe holt, und das Vorgehen mit einer Fachperson koordiniert.
Depression: Das Gedankenkreisen
Täglich ist der Mensch mit 60‘000 bis 80‘000 Gedanken konfrontiert – eine Mehrheit davon negativ.
Der Psychologe John Teasdale (2010) erklärt, dass negative Gedankenströme Energie kosten, vergleichbar mit einem Elektrogerät im Standby-Modus. Für Depressionen sei bezeichnend, dass die Betroffenen fast ausschliesslich negative Gedankenmuster haben. Das permanente Grübeln und ständige Sorgen entziehen viel Energie.
Der Ansatz von Achtsamkeitsprogrammen
Teasdale entwickelte mit seinen Kollegen das auf MBSR basierende MBCT-Programm: Mindfulness Based Cognitive Therapy.
MBCT ist eine kognitive Verhaltenstherapie, die sich die Achtsamkeitsübungen aus dem MBSR-Programm zunutze macht und sie kombiniert mit Einzel- und Gruppensitzungen, in denen Betroffene über mögliche Einstellungs- und Verhaltensänderungen sprechen. Anders als in der herkömmlichen Verhaltenstherapie geht es nicht darum, Menschen Problemlöseansätze für konkrete Situationen an die Hand zu geben. Betroffene sollen stattdessen einen anderen inneren Umgang mit unangenehmen Gedanken und Gefühlen erlernen und dadurch zu flexiblen, vielseitig anwendbaren Problemlösestrategien finden.
Folgende Ansätze sind dabei u.a. zentral:
- Betroffene lernen, die Aufmerksamkeit weg vom negativen Gedankenstrom und hin zum Atem zu lenken. Dadurch verlieren die unangenehmen, beklemmenden Gedanken an Kraft und treten in den Hintergrund.
- Da sich Betroffene häufig darüber beklagen, zu sehr »im Kopf« zu sein, vorauszuplanen und die Vergangenheit gedanklich zu zerpflücken, wird mit dem Fokus auf Körperwahrnehmungen (sanfter Yoga) im Hier und Jetzt gearbeitet.
- Genau wie in den MBSR-Kursen wird trainiert, Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen wertungsfrei wahrzunehmen. Durch die Rolle als Beobachter:in findet Disidentifikation statt; die Betroffenen erkennen, dass die Depression ein ungesundes Verhaltensmuster ist, aber nicht Teil ihrer Identität. Sie kommen weg von der determinierenden Aussage »Ich bin depressiv« hin zur Erkenntnis »Ich habe zurzeit eine Depression / depressive Verstimmung«.
Die Bedeutsamkeit von MBSR und MBCT bei der Behandlung von Depressionen
- Psychiatrien und Kliniken laufen oft am Anschlag. In der Nordwestschweiz dauert es drei oder mehr Wochen, bis man sich in medikamentöse Behandlung begeben kann. (Es sei denn, man gilt als akut gefährdet aufgrund von Suizidgedanken.) Achtsamkeitsprogramme können eine wertvolle Alternative bieten oder aber helfen, die Wartezeit zu überbrücken, sich bereits mit den negativen Gedankenmustern auseinander zu setzen und wichtige Vorarbeit zu leisten.
- Bei medikamentösen Behandlungen werden Patientinnen und Patienten in der Regel dazu angehalten, nach Abklang der Symptome sechs Monate bis zwei Jahre lang Antidepressiva einzunehmen, um das Rückfallrisiko zu verkleinern. Abhängigkeiten und diverse, teilweise irreversible Nebenwirkungen (Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Organschäden, Gewichtzunahme, sexuelle Beinträchtigungen, …) können die Folge sein. Fast 15% der Patientinnen und Patienten brechen eine entsprechende Behandlung aufgrund der Nebenwirkungen ab.
Achtsamkeitsprogramme bieten eine nebenwirkungsfreie und zudem kostengünstige Alternative. - Die Wirkung von Tabletten hält so lange an, wie man sie einnimmt. Immer wieder machen Patientinnen und Patienten die Erfahrung, dass Therapieerfolge zumindest teilweise zunichte gemacht werden durch das Absetzen der Antidepressiva.
Achtsamkeitsprogramme sind auf Langfristigkeit ausgelegt; Ziel ist eine nachhaltige Veränderung der Umgangsweise mit den eigenen Gedanken, Gefühlen, Körperempfindungen und Sinneseindrücken. Es müssen keine Medikamente ausgeschlichen und somit keine möglichen Brüche im Behandlungsverlauf in Kauf genommen werden. Selbst erarbeitete Einsichten erweisen sich oft als stabil und hochwirksam im Umgang mit alltäglichen Herausforderungen. - Teilnehmende von Achtsamkeitsprogrammen sind sensibilisiert auf ihre Gedankenmuster. Sie haben damit ein mächtiges Werkzeug zur Hand, um Warnzeichen für einen Rückfall in die Depression frühzeitig erkennen und entsprechend reagieren zu können.
- Mehrere Studien zeigen, dass achtsamkeitsbasierte Ansätze nicht nur der Rückfallprävention dienen, sondern auch bei akuten Depressionsausbrüchen helfen können. Die Symptome bei akut Depressiven werden durch achtsamkeitsbasierte Programme wie MBSR und MBCT deutlich reduziert. Zudem erhöht sich durch zunehmende Achtsamkeit auch das Mitgefühl sich selbst gegenüber. Studien belegen: Je mitfühlender die Patientinnen und Patienten werden, desto weniger depressiv sind sie. Die negativen Gedankenmuster vermögen offenbar dank Mitgefühl weniger Schaden anzurichten.
Stolpersteine und Herausforderungen rund um MBSR und MBCT
- Amelie Haupt (2019) schreibt: »Übe dich in Achtsamkeit, wenn der Wald nicht ganz so bedrohlich und düster aussieht und es dir etwas leichter fällt. Dann kann sie dir an den schwierigen Tagen als nützliches Instrument dienen, mit dem du umzugehen weisst. Schliesslich lernt man ja die Mund-zu-Mund-Beatmung auch nicht erst, wenn der Notfall schon eingetreten ist.«
In der Tat ist es hilfreich, wenn man eine gewisse Vorlaufzeit hat und diverse Strategien bereits erarbeiten konnte, bevor einen die Depression trifft. Gerade hier liegt aber der Hund begraben: Viele Leute entdecken erst aufgrund einer depressiven Episode achtsamkeitsbasierte Programme. Noch viel zu selten wird Achtsamkeit präventiv eingesetzt, obwohl hier viel Potenzial liegen würde. - Achtsamkeit zu erlernen, erfordert viel Disziplin. Betroffene müssen die Bereitschaft aufbringen, täglich 45 bis 60 Minuten zu üben, auch wenn sie müde, traurig, ausgelaugt und belastet sind. Gerade während einer Depression kann es schwierig sein, die Energie für die Achtsamkeitspraxis aufzubringen.
- Zu Beginn der Behandlung kann Achtsamkeit zu erhöhtem Stress für Körper und Geist führen. Offenbar arbeite sogar das Immunsystem in einer ersten Phase etwas reduziert. Die Konfrontation mit den eigenen Denk- und Verhaltensmustern und das Erlernen neuer Strategien ist herausfordernd, durchaus nicht immer angenehm und sehr intensiv. Es wird somit von Betroffenen ein hoher Initialaufwand gefordert, den zu erbringen je nach Schweregrad der Depression nicht immer möglich scheint.
Interessiert an einer Übung aus dem MBSR-Programm? Hier geht’s zu einer geführten Sitzmeditation.
Quellen:
- Williams Mark, Teasdale John, Segal Zindel (2010). Der achtsame Weg durch die Depression. Arbor-Verlag, Freiburg im Breisgau, Deutschland
- Mit Achtsamkeit aus der Depression, https://www.spektrum.de/news/mit-achtsamkeit-aus-dem-schwarzen-loch/1349082, gesehen am 23.04.2021
- Achtsamkeit gegen Depression, https://urbestself.de/blogs/article/achtsamkeit-gegen-depression, gesehen am 23.04.2021
- The Effect of Mindfulness-Based Therapy on Anxiety and Depression: A Meta-Analytic Review, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2848393/, gesehen am 23.04.2021
- Mindfulness-Based Interventions for People Diagnosed with a Current Episode of an Anxiety or Depressive Disorder, https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0096110, gesehen am 23.04.2021
- Wie wirksam sind Antidepressiva?, https://www.gesundheitsinformation.de/wie-wirksam-sind-antidepressiva.2125.de.html?part=behandlung-yi, gesehen am 23.04.2021
- The effect of mindfulness-based cognitive therapy for prevention of relapse in recurrent major depressive disorder: A systematic review and meta-analysis, https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0272735811000973, gesehen am 23.04.2021
- Effectiveness and cost-effectiveness of mindfulness-based cognitive therapy compared with maintenance antidepressant treatment in the prevention of depressive relapse or recurrence (PREVENT): a randomised controlled trial, https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736%2814%2962222-4/fulltext, gesehen am 23.04.2021