Warum muss Achtsamkeit trainiert werden?

Ja, warum zum Teufel? Wäre es nicht super, wir wären «von Natur aus» achtsam? Wenn wir das einfach könnten? 
Manch ein Staatsoberhaupt würde dann vielleicht eine Therapie beginnen, statt einen Krieg anzuzetteln, oder sich in Mitgefühl und Fürsorge statt in Steuerhinterziehung üben. Überhaupt ginge es auf diesem Planeten bedeutend friedlicher zu und her – sowohl zwischen den Nationen als auch in jedem einzelnen Wohnzimmer –, wenn wir von Natur aus achtsam wären.

Die Gnade der Evolution

Die gute Nachricht ist: Wir verfügen über die Fähigkeit zu Achtsamkeit. Die Evolution hat diese Fähigkeit nicht ausgelöscht (und bewahrt unsere Spezies damit vielleicht vor dem Untergang). Aber sie hat Achtsamkeit aus Ressourcengründen nicht präferiert. 

Wir müssen Achtsamkeit trainieren, denn ohne zu üben, verfügen wir über zu wenig Bewusstseinskraft, um die Achtsamkeit über einen längeren Zeitraum aufrecht erhalten zu können. 

Aufmerksamkeit versus Achtsamkeit

Im Alltag agieren wir üblicherweise mit Aufmerksamkeit und nicht mit Achtsamkeit. Mithilfe der Aufmerksamkeit werden unsere geistigen Ressourcen auf bestimmte Tätigkeiten, geistige Inhalte oder Objekte gelenkt, zum Beispiel auf das Schreiben eines E-Mails, auf eine Erinnerung oder auf eine Fotografie. Ohne die Komponente der Achtsamkeit fehlen jedoch

1)   der Blick aus der nicht involvierten, nicht wertenden Beobachterrolle und 

2)   das Bewusstsein für das Hier und Jetzt.

Lassen Sie mich an einem Beispiel den Unterschied zwischen Aufmerksamkeit und Achtsamkeit verdeutlichen:


➡️ Aufmerksamkeit:

Ich sitze vor dem Computer und schreibe ein wichtiges geschäftliches E-Mail. Dabei überlege ich mir genau, wie ich den Text formulieren möchte – immerhin geht er an die vorgesetzte Person – und lese jeden geschriebenen Satz mehrmals aufmerksam durch; einerseits, um Schreibfehler zu vermeiden, andererseits, um mein Anliegen möglichst klar und zugleich mit der nötigen Höflichkeit und Professionalität zu kommunizieren. 

 

➡️ Achtsamkeit:

Es geschieht dasselbe wie zuvor unter «Aufmerksamkeit» beschrieben und zusätzlich noch Folgendes:  Ich bin mir bewusst, dass ich jetzt am Schreiben dieses Mails bin und was dabei in mir vorgeht, ohne darüber zu urteilen. Zum Beispiel sitze ich vielleicht verkrampft da und bemerke die Angst in mir, durch eine ungeschickte Formulierung die vorgesetzte Person vor den Kopf zu stossen. Ich erkenne, dass ich mich an eine frühere Situation erinnere, in der ich von einer Autoritätsperson gemassregelt wurde und wie unwohl ich mich dabei fühlte. Ich bin mir aber auch bewusst, dass sich die Vergangenheit nicht in der Gegenwart wiederholen muss. Zugleich entdecke ich in mir den Wunsch, mein Anliegen klar formulieren und meinen Bedürfnissen Raum geben zu wollen. Ich spüre mein Unwohlsein beim Schreiben des Mails, anerkenne es, ohne mich dafür zu verurteilen, stehe kurz auf, strecke mich und nehme einen bewussten Atemzug, bevor ich mich wieder setze und das Mail zu Ende schreibe.


Erweiterung des Achtsamkeitsbegriffes: Achtsamkeit = Aufmerksamkeit + peripheres Gewahrsein

Lassen Sie uns, basierend auf den vorangehenden Ausführungen, die bisherige Definition von Achtsamkeit vertiefen und erweitern:

Achtsamkeit vereint Aufmerksamkeit – also den konzentrierten Fokus auf eine Tätigkeit, einen geistigen Inhalt oder ein Objekt – und sogenanntes «peripheres Gewahrsein».

Das periphere Gewahrsein ist ein wertungsfreies Bewusstsein darüber, was gegenwärtig in unseren inneren oder äusseren «Randgebieten» abläuft. Es agiert als wachsames Alarmsystem, das ein (wenn nötig auch schnelles) Reagieren auf innere oder äussere Gegebenheiten ermöglicht.

Dank des peripheren Gewahrseins können wir – um nochmals auf vorangehendes Beispiel Bezug zu nehmen – nicht nur auf das Schreiben des Mails konzentriert sein (wofür es Aufmerksamkeit braucht), sondern zugleich auch wertungsfrei bemerken, welches zusätzliche Erleben (zum Beispiel körperliche Anspannung, Furcht, Unbehagen, getriggerte Erinnerungen) dabei «nebenher» abläuft, um gegebenenfalls darauf reagieren zu können. 

Warum hat die Evolution Achtsamkeit nicht präferiert?

Es kostet uns Bewusstseinskraft, Aufmerksamkeit und peripheres Gewahrsein aktiviert zu halten. Wahrscheinlich hat darum die Evolution die Fähigkeit zu Achtsamkeit nicht präferiert. In der heutigen Zeit, in unserer schnelllebigen Gesellschaft und komplexen Arbeitswelt, brauchen wir die Achtsamkeit aber mehr denn je, um gut für uns und andere sorgen zu können. Und mit dem nötigen Training gelingt es uns immer häufiger und anstrengungsloser, Aufmerksamkeit und peripheres Gewahrsein zu vereinen.

Bedeutsamkeit des Zusammenspiels von Aufmerksamkeit und peripherem Gewahrsein

Gerne möchte ich Ihnen anhand dreier Beispiele verdeutlichen, weshalb das ausgewogene Zusammenspiel von Aufmerksamkeit und peripherem Gewahrsein so bedeutsam ist:

 

  • 1) Wir brauchen Achtsamkeit im Strassenverkehr, denn da sind sowohl Aufmerksamkeit auf die Tätigkeit des Fahrens und die Fahrstrecke, als auch peripheres Gewahrsein gefragt. Das periphere Gewahrsein lässt uns das Kind, das überraschend auf die Fahrbahn läuft, rechtzeitig sehen und darauf reagieren oder zeigt uns, wenn wir innerlich zu aufgewühlt sind, um konzentriert fahren zu können.


  • 2) Wir brauchen Achtsamkeit in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen, denn hier ist die stabile Aufmerksamkeit auf verbalisierte Inhalte und nonverbale Signale ebenso gefragt wie das periphere Gewahrsein, das uns in Kontakt mit unseren Körperempfindungen, Gedanken und Gefühlen, also mit unserem physischen und inneren Erleben, treten lässt. Das periphere Gewahrsein kann uns beispielsweise in konfliktbeladenen Gesprächen dabei unterstützen, uns umsichtig und nicht-reaktiv zu verhalten, da wir während des Zuhörens und Sprechens in wertungsfreiem Kontakt mit unserem Körper und unserem Inneren stehen.


  • 3) Wir brauchen Achtsamkeit am Arbeitsplatz, denn wir müssen uns einerseits auf die Arbeitsinhalte konzentrieren können (wozu es Aufmerksamkeit braucht), uns mithilfe des peripheren Gewahrseins zugleich aber auch unserer Absichten und Motive sowie weiterer Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen und Sinneseindrücke bewusst sein, wenn wir im Rahmen des Arbeitsprozesses auf heilsame Weise für uns und andere sorgen wollen.

 

Fazit

Achtsamkeit muss geübt werden, denn die Evolution hat’s verkackt, das optimale Zusammenspiel von stabiler Aufmerksamkeit und flexiblem peripherem Gewahrsein zu fördern. 🥴 Für die Evolution kommt unsere schnelllebige, hektische Gesellschaft echt aus dem toten Winkel!