Wie begegne ich anderen achtsam?

Wenn wir Achtsamkeit praktizieren, verbleiben wir nicht im Mikrokosmos des persönlichen Empfindens. Das aufrichtige Bemühen beim Erforschen der eigenen Körperempfindungen, Sinneseindrücke, Gedanken und Gefühle hat grossen Einfluss darauf, in welcher Tiefe wir fähig sind, unser jeweiliges Gegenüber und die Welt wahrzunehmen. Unser Achtsamkeitstraining führt zudem dazu, dass wir immer häufiger in einem Zustand von nicht-wertender, freundlicher Bewusstheit verweilen – diese Geisteshaltung wird auch in der Interaktion mit anderen Lebewesen Früchte tragen. 

Lassen Sie uns nun konkret anschauen, wie wir anderen achtsam begegnen können. Zur besseren Verständlichkeit habe ich den Text dabei in die folgenden Abschnitte gegliedert: 

  • Verantwortung übernehmen; das Heilsame nähren 
  • Um die eigene Verfassung wissen 
  • Um die eigenen Motive wissen 
  • Präsenz in der Interaktion 
  • Um das Unwissen wissen; nicht werten 
  • Das von anderen verursachte Leid in sich lindern 
  • Gesprächsinhalte bewusst wählen respektive mitgestalten 
  • Tiefes Zuhören, achtsames Mitgefühl 
  • Kein Leid schaffen, Leid verringern 

 

Verantwortung übernehmen; das Heilsame nähren: 

Jedes Mal, wenn wir grobe Worte sprechen, die Verärgerung in uns am Lodern halten, anderen absichtsvoll schaden, den Kontakt zu Menschen suchen, die uns nicht guttun, uns mit anderen vergleichen, unseren Körper geringschätzen und ihm Drogen oder andere Schadstoffe zuführen, nähren wir das Unheilsame. Unser inneres Zuhause zerfällt; wir beginnen, uns in uns unwohl zu fühlen, weil wir von Augenblick zu Augenblick mit den unheilsamen Qualitäten des Unfriedens, des Zorns, der Missgunst, der Ablehnung und der Abwertung in uns konfrontiert werden. Wir lassen unser inneres Zuhause nicht nur verwittern; wir beschädigen sogar aktiv die Wände, Fenster, Türen, den Boden, das Dach und Einrichtungsgegenstände, die uns eigentlich lieb wären. 

Wir können uns dafür entscheiden, mit unserem Lebenswandel, unserer Arbeit, unseren Freizeitaktivitäten und der Wahl unserer Freundschaften die heilsamen Qualitäten der Friedfertigkeit, der Gelassenheit, der Zugewandtheit und der reifen Liebe in uns zu fördern. Wir können die Freundlichkeit in uns nähren, indem wir freundliche Worte sprechen und uns in Dankbarkeit üben. Wir können die Geduld in uns kultivieren, indem wir in herausfordernden Alltagssituationen achtsame Atemzüge nehmen und uns erlauben, uns ruhig und bewusst zu bewegen. Wir können das Verständnis in uns fördern, indem wir andere nach ihrem Erleben fragen und tief zuhören. 

Wir – und nur wir – können die Verantwortung für unser Inneres übernehmen. Wie möchten wir sein? Welche heilsamen Qualitäten möchten wir in uns kultivieren? Wie darf unser inneres Zuhause aussehen? Was tut uns und der Welt gut? 

Wenn wir mit heilsamen Gewohnheiten und heilsamem Denken, Reden und Handeln ein schönes Zuhause in uns schaffen, werden sich auch andere Menschen in unserer Nähe wohl fühlen. Unsere urteilslose Gegenwärtigkeit und offene Freundlichkeit können sie zu freudigen Gästen in unserem Dasein machen. 

 

Um die eigene Verfassung wissen: 

Der Alltag geizt nicht mit Herausforderungen. Manchmal fühlen wir uns müde, ausgelaugt, deprimiert oder gereizt ob des schieren Umfangs oder der Intensität unseres Erlebens und unserer Aufgaben. Achtsamkeit kann uns dabei unterstützen, unsere Befindlichkeiten nicht zu einer Belastung für unsere Beziehungen werden zu lassen. 

Wenn wir mit blank liegenden Nerven nach Hause kommen, mögen wir vielleicht zu unserem Partner, unserer Partnerin sagen: «Ich fühle mich furchtbar erschöpft und gereizt; ich brauche einige Minuten für mich, um mich zu fangen.» Oder: «Ich bin so angespannt – jetzt würde mir eine Umarmung guttun.» Oder: «Es tut mir leid, dass ich dir nicht meine volle Aufmerksamkeit schenken kann. Ich fühle mich gerade sehr unwohl und merke, dass ich keine Kapazität habe, mich vollständig zu öffnen, obwohl du mir so wichtig bist.» 

Viel Heilsames kann in der Interaktion mit unseren Liebsten entstehen, wenn wir die Beziehungsgestaltung nicht unseren unausgesprochenen Befindlichkeiten überlassen! Unsere offene Kommunikation kann zudem eine Einladung an unser Gegenüber sein, sich ebenfalls vertrauensvoll zu äussern. 

Manchmal ist auch am Arbeitsplatz solch eine Offenheit möglich. Doch nicht jedes Arbeitsumfeld bietet Raum für transparente Kommunikation, wenn es um unser Erleben und Empfinden geht. Vertrauen Sie sich: Sie spüren, ob eine offene Kommunikation in Ihrem Arbeitsumfeld möglich ist oder nicht. Sollte sie es nicht sein, fällt der achtsamen Selbstfürsorge eine sogar noch grössere Bedeutung zu als sonst. 

 

Um die eigenen Motive wissen: 

Warum sagen wir dieses oder jenes? Was bezwecken wir mit unserer lauten oder leisen Stimme oder der Wortwahl? Welches Motiv verbirgt sich hinter unserer Schmeichelei oder unserem Schweigen? Was brauchen wir? Was wollen wir? Was erhoffen wir uns von unserem Gegenüber? 


Manchmal halten wir vielleicht Kontakt zu anderen, um der Einsamkeit zu entgehen. Wir fürchten uns vor dem Alleinsein und sind froh um die Ablenkung und Anregung durch andere Menschen. 

In manchen Situationen sind wir vielleicht auf Bestätigung aus; wir suchen und halten Kontakt, um von anderen Anerkennung zu erfahren. Oder wir reden schlecht über abwesende Drittpersonen oder dominieren das Gegenüber, im fehlgeleiteten Versuch, uns zu beweisen, dass wir wertvoll sind. 

Es kann uns passieren, dass wir andere zu unserer Bedürfnisbefriedigung nutzen, dass wir von anderen zehren, statt ihnen zu begegnen. Das kann sogar passieren, wenn wir uns grundsätzlich um Aufgeschlossenheit und Freundlichkeit bemühen. Wir wünschen uns vielleicht insgeheim, dass unser Gegenüber den Kummer, das Leid in uns erkennen und lindern kann und gehen mit unausgesprochenen (und uns oft unbewussten) Erwartungshaltungen auf andere zu. 

Achtsamkeit hilft, andere Menschen ohne Anspruchshaltung, sondern ihres Seins wegen in unser Leben einzuladen. Achtsamkeit kann uns unsere Motive aufzeigen und schenkt uns dadurch die Möglichkeit, die Angst vor Einsamkeit, das Gefühl von Wertlosigkeit, die Bedürftigkeit und den Kummer anzunehmen. Wenn wir unsere Bedürfnisse kennen und ihnen in Annahme und Frieden begegnen, gehen wir nicht mit geheimer Agenda auf andere zu. Wir versuchen nicht mehr, andere zu unseren Gunsten zu manipulieren. Vieles in uns können wir selbst befrieden und nähren, wenn wir in Kontakt mit uns selbst stehen. Und wenn wir uns etwas von unserem Gegenüber wünschen, können wir klare, realistische und bedingungslose Bitten formulieren. 

Statt unserem Partner, unserer Partnerin im Vorbeigehen ohne Blickkontakt zuzuzischen: «Ja, geh du nur mit deinen Freunden raus, das ist für mich völlig okay; ich bin es mir ja gewohnt, von dir allein gelassen zu werden. Einfach, dass du dich nicht wunderst, wenn du mich mit diesem Verhalten verlierst!» mögen wir vielleicht Blickkontakt suchen und unserem liebsten Menschen sagen: «Ich spüre, dass ich dich vermisse. Es wäre für mich sehr schön, wieder mal etwas mit dir zu unternehmen. Es muss nicht heute sein, wenn du heute andere Pläne hast. Magst du vielleicht morgen Abend oder am nächsten Wochenende mit mir ausgehen?» Diese Frage gibt unserem Gegenüber die Möglichkeit, zu bejahen oder zu verneinen. 
Sollte die Bitte ausgeschlagen werden, so mögen wir vielleicht mit diesem Menschen zusammensitzen und die unterschiedlichen Bedürfnisse in der Beziehung klären – in aller Offenheit für alle Konsequenzen, denn wir wissen um das schöne und sichere Zuhause in uns, das durch das Praktizieren von Achtsamkeit entsteht. 

 

Präsenz in der Interaktion: 

Präsenz macht einen erheblichen Unterschied in jeder Interaktion. Unsere urteilsfreie Gegenwärtigkeit hat einen grossen Einfluss auf die Worte und das Verhalten des Gegenübers – und auf unser eigenes Agieren. Wenn das Gegenüber wahrnimmt, dass wir ganz da sind, mag es sich vielleicht mehr oder auf andere Art und Weise öffnen, als wenn wir geistesabwesend wirken. Manchmal bedarf es keiner Worte; manchmal reicht es, wenn wir in der Nähe eines Menschen stehen oder sitzen, uns und diesen Menschen tief wahrnehmen und einfach da sind. Manchmal hilft es dem Gegenüber, wenn wir schlicht sagen: «Ich bin da.», «Ich höre dir zu.» oder «Du bist mir wichtig.» 

Unsere Beziehungen können an Tiefe gewinnen, wenn wir auf diese Weise mit anderen Menschen verweilen. Sogar ein schweigendes Dasitzen zu zweit in tiefer Präsenz oder eine sanfte, respektvolle Berührung können wie ein heilsames Gespräch zwischen uns und unserem Mitmenschen sein. 

Präsenz in der Interaktion ist ein Geschenk an das Gegenüber, und sie ist ebenso ein Geschenk an uns selbst. Auch das Gegenüber kann – bewusst oder unbewusst – mit gewissen Motiven oder Erwartungshaltungen auf uns zukommen. Wenn wir tief in uns ruhen und zugleich in offenem Dasein mit dem Gegenüber verweilen, wird uns bewusst, was unter und zwischen den Worten liegt. Unsere Präsenz bedeutet, dass wir jederzeit handlungsfähig und selbstbestimmt bleiben. Möchte das Gegenüber etwas von uns? Wissen wir, was das Gegenüber möchte oder bedarf es einer Nachfrage? Sind wir bereit zu tun, was das Gegenüber möchte? Wie fühlen wir uns damit? Was möchten wir? Wie möchten wir diese Beziehung gestalten? 

Wenn wir achtsam sind, erkennen wir klarer, was geschieht, als wenn wir unachtsam sind. Dies eröffnet uns Möglichkeiten: Möchten wir unsere Befindlichkeit äussern? Möchten wir uns zurückziehen? Möchten wir sprechen oder schweigen, handeln oder nicht handeln? 

Achtsamkeit macht frei. Wenn wir in urteilsfreier Bewusstheit ruhen, gestehen wir niemandem Macht über uns zu. Achtsamkeit verringert unsere Anfälligkeit für zwischenmenschliche Manipulation deutlich. 

 

Um das Unwissen wissen; nicht werten: 

Vor einigen Jahren trat ich eine Arbeitsstelle in einem Unternehmen an, in dem ein Angestellter beschäftigt war, der die an die Firma adressierte Post in den verschiedenen Büros und Firmengebäuden verteilte. Ab und zu gingen Briefe und Rechnungen verloren oder sie fanden ihren Weg (zu) spät zum jeweiligen Adressaten. Wenn dies geschah, ärgerte ich mich innerlich jedes Mal, versuchte jedoch äusserlich Contenance zu wahren – immerhin hatte ich die Arbeitsstelle neu angetreten und wollte keinen Unfrieden stiften. Ich schien auch die einzige zu sein, die sich an der (wie ich damals dachte) Unzuverlässigkeit des Angestellten störte. 

Eines Tages erhielt ich einen Mahnbrief wegen einer unbezahlten Rechnung – einer Rechnung, die ihren Weg nie auf meinen Schreibtisch gefunden hatte. Da sagte ich zur Kollegin, die im selben Büro arbeitete, dass es meines Erachtens nun an der Zeit sei, die vorgesetzte Person über das unzuverlässige Verhalten dieses Angestellten zu informieren. Die Kollegin erwiderte daraufhin: «Aber das wissen doch alle! Er arbeitet seit über dreissig Jahren hier, hat allerdings vor zwei Jahren die Demenz-Diagnose erhalten. Den Vorgesetzten ist es gelungen, seine Arbeitsstelle zu einem geschützten Arbeitsplatz zu machen. So kann er trotz seiner Erkrankung in einem vertrauten Umfeld bleiben, was ihn sehr unterstützt in dieser Situation. Er darf so lange hierbleiben, wie es einigermassen klappt mit der Arbeit und niemand zu Schaden kommt.» 

Ich schwieg betroffen. Wie schlimm wäre es für diesen Menschen gewesen, hätte man ihn an eine völlig neue Arbeitsstelle verpflanzt oder nach Hause oder in ein Heim verbannt! Ab diesem Zeitpunkt störte es mich nie wieder, wenn es Pannen beim Austeilen der Post gab. Und ich fühlte mich motiviert, unsere wichtigsten Partner zu einem Rechnungsversand per Mail zu ermutigen. Zuvor hatte ich dies aus Trotz nicht getan; aus dem Bedürfnis heraus, nicht in meinem Aufgabengebiet, sondern im Tun des Angestellten etwas verändern zu wollen. Durch die Erklärung der Kollegin hatten sich mein inneres Erleben in Bezug auf diese Situation sowie mein Verhalten sofort und nachhaltig verändert. 

Wir können nicht wissen, warum jemand bestimmte Verhaltensweisen zeigt oder bestimmte Worte spricht. Wie sind Körper und Geist anderer beschaffen? Was verbirgt sich hinter Unzuverlässigkeit? Oder: Woraus entspringt ein unfreundliches Wort, eine beleidigende Geste oder gar eine Gewalttat? Wie kommt es zu Lethargie, Indifferenz, Desinteresse? Oder zu Knausrigkeit? Oder Egoismus? Wie kommt es zu irgendeiner Tat, die irgendeine Form von Leid über andere bringt? Und durch welche Wahrnehmungsbrille schauen wir auf leidverursachende Handlungen? 

Wie schnell sind wir mit Wertungen bei der Hand! Wie schnell ist in unseren Augen jemand dumm, faul, grob, unfähig, nicht liebenswert! Das ist nur zu verständlich; es geht darum, Verhaltensweisen einzuordnen und uns vor dem Leid zu schützen, das andere über uns bringen könnten. Unser manchmal harsches Urteil entspringt also oft dem Bedürfnis nach Selbstschutz. Aber solange wir in Wertungen verstrickt sind, können wir nicht erkennen. Wenn wir bei uns und anderen mitfühlend hinschauen und uns um tiefes Erkennen bemühen, werden wir Verständnis in uns finden; selbst wenn wir mit Abgründen konfrontiert werden. 

Natürlich dürfen wir uns trotzdem abgrenzen, einen Kontakt verwehren, Anzeige erstatten oder vor Gericht gegen jemanden aussagen. Aber wir können nicht, nie, um die Lebenswirklichkeit eines anderen Menschen wissen, selbst wenn wir diesem Menschen nahe stehen. Wir alle sind aufs Engste miteinander verbunden und einander doch so völlig unbegreiflich. Wir können nichts mit Sicherheit über andere wissen, ausser, dass ihr Wert genau wie der unsere völlig unantastbar ist und dass es uns in keinem Moment zusteht, sie in ihrem Sein zu verurteilen. Diese Erkenntnis bedeutet Verständnis. 

Die Ablehnung, die wir anderen entgegenbringen, bringen wir auch über uns. Das Verständnis, das wir anderen entgegenbringen, schenken wir auch uns. 

Mögen wir uns in Verständnis üben, unermüdlich. Mögen wir in wacher Freundlichkeit, im Anfängergeist, verweilen und im Wissen, dass wir nichts wissen können. 

 

Das von anderen verursachte Leid in sich lindern: 

Manchmal sprechen andere Menschen Worte oder zeigen Verhaltensweisen, die uns tief verletzen. Manche dieser Aussagen oder Taten können sogar so schmerzhaft sein, dass sie uns über Jahre oder Jahrzehnte begleiten und immer wieder in uns aufbrechen wie eine Wunde, die einfach nicht heilen will. Viel und langanhaltendes Leid kann die Folge sein. 

Bewusstheit unterstützt einen heilsamen und leidlindernden Umgang mit derartigen Verletzungen. Folgendes dürfen wir uns bewusst sein: 

  • Manchmal verletzen uns andere Menschen, ohne dass eine Absicht dahinter steckt. Sie berühren eine Stelle in uns, die bereits verwundet ist. Wenn das Gegenüber uns ohne Absicht verletzt, so hat es uns (unwissentlich) aufgezeigt, welche Stelle in unserem Herzen unserer Zuwendung bedarf. 
  • Manchmal sprechen Menschen in voller Absicht Boshaftigkeiten aus, verhalten sich grob oder üben gar Gewalttaten aus. Wer absichtsvoll in Kauf nimmt, anderen Leid zu bereiten, leidet meist selbst und will unbewusst dieses Leid loswerden, indem er es an andere weiterzugeben versucht. Allerdings verbleibt dabei das Leid in diesem Menschen, und es wird zusätzliches Leid in anderen, beispielsweise in uns, ausgelöst. Hinter absichtsvoller Boshaftigkeit steckt oftmals ein mangelndes Verständnis in Bezug auf einen heilsamen Umgang mit dem eigenen Schmerz. Nun ist es an uns, uns bewusst zu verhalten und dieses Leid nicht zurück oder weiter zu geben und nicht zu verstärken, sondern es in uns zu befrieden, indem wir uns in mitfühlender Selbstzuwendung üben. 

 

Die Verletzungen, die andere uns zugefügt haben, lassen sich mithilfe der Achtsamkeit lindern. Vielleicht möchten wir meditieren, dabei eine Hand auf den Brustkorb legen und ganz behutsam mit dem Schmerz Kontakt aufnehmen. Mögen wir uns der Traurigkeit, Wut, Angst oder Enttäuschung sanft und voller Fürsorge zuwenden? Schenken uns achtsames Atmen, achtsames Gehen oder die Metta-Meditation Frieden?
Was können wir für uns tun, um unsere Heilung zu unterstützen? Möchten wir weinen? Möchten wir unsere Gedanken und Gefühle aufschreiben? Möchten wir das Gespräch mit dem Menschen, der uns verletzt hat, suchen? Oder diesem Menschen einen Brief schreiben? Möchten wir den Kontakt mit diesem Menschen (vorerst oder langfristig) meiden? Brauchen wir eine therapeutische Begleitung? Hilft es uns, uns einer Selbsthilfegruppe anzuschliessen und die leidvolle Erfahrung mit anderen zu teilen? 

Manchen Verletzungen müssen wir uns über Jahre immer und immer wieder liebevoll und geduldig zuwenden, um uns tief verstehen und annehmen zu können. Andere wiederum sind nach einer einzigen Sitzmeditation geheilt. Wenn wir uns aktiv um unsere innere Heilung bemühen, indem wir achtsam hinschauen und uns schenken, was uns (auch langfristig gesehen) guttut, besteht die Chance, dass wir tatsächlich heilen können. Der vermeintliche Wertentzug durch andere macht es ganz besonders nötig, uns in Wertschätzung uns selbst gegenüber zu üben und uns unseres unantastbaren Wertes immer wieder von neuem bewusst zu werden. 

Ab dem Moment, indem wir uns unseres Wertes (wieder) gewiss sind, ist Vergebung möglich. Und Vergebung ist der mutigste und heilsamste Herzensakt. 

 

Gesprächsinhalte bewusst wählen respektive mitgestalten: 

Gesprächsinhalte dürfen klug gewählt oder mitgestaltet werden – so können Gespräche eine heilsame Wirkung in unserem Leben und dem Leben unserer Mitmenschen entfalten. 

Dies bedeutet nicht, dass nur noch über Schönes, Angenehmes gesprochen werden darf; auch das Heikle, Unangenehme darf seinen berechtigten Platz in der Konversation einnehmen: Es kann Sinn ergeben, Bedenken zu äussern oder Zweifel anzumelden, der eigenen Befindlichkeit Ausdruck zu verleihen oder das Gegenüber mit einer bedrückten Gefühlslage zu konfrontieren – ebenso wie es Sinn ergeben kann, ein aufrichtiges Kompliment auszusprechen, die Schönheit der Natur hervorzuheben oder jemandem aus der Tiefe des Herzens zu danken. 

Die Einladung ist, in Gesprächen keine groben, sinnentleerten, trennenden oder falschen Worte zu sprechen

Wir brauchen nicht verletzend zu sein, um unseren Standpunkt darzulegen, etwas zu verneinen oder uns abzugrenzen. 

Wir brauchen nicht ziellos zu plappern, um unsere Beziehungen aufrecht zu erhalten oder zu stärken. 

Wir brauchen nicht unseren Wert zu beweisen, indem wir schlecht über abwesende Drittpersonen reden oder das Gegenüber abwerten und damit eine künstliche Trennung zwischen uns und anderen schaffen. 

Wir brauchen nicht Unwahres zu erzählen, um uns besser, wichtiger oder interessanter zu machen. 

Unser Wert ist stets gegeben; wir müssen ihn in unseren Konversationen nicht erringen. Es reicht, wenn wir in Schlichtheit und Zugewandtheit sprechen und schweigen. Unsere Worte dürfen der Absicht entspringen, die Beziehung zum Gegenüber zu verbessern und kein Leid zu verursachen, wenn möglich sogar Leid zu verringern. 

Heilsame Sätze können Gespräche tief bereichern. Heilsame Sätze kommen aus unserem Herzen und sind wie eine Brücke zum Herzen eines anderen Menschen. Sie entspringen unserem Empfinden und achtsamen Wahrnehmen und laden uns und das Gegenüber ein, in Kontakt mit der Natur des Menschseins zu treten. Wir dürfen den Mut haben, heilsame Sätze auszusprechen, je nach Situation zum Beispiel: 

  • 🌞 «Ich liebe dich.» 
  • 🌞 «Ich bin mit dir da.» 
  • 🌞 «Ich danke dir für dein Dasein.» 
  • 🌞 «Ich höre dich.» 
  • 🌞 «Magst du mir erzählen, wie es dir geht?» 
  • 🌞 «Du bist mir wichtig, und ich habe den Eindruck, dass es dir nicht gut geht. Was kann ich tun, um dein Leid zu lindern?» 
  • 🌞 «Ich bin unsicher, ob ich dich verstanden habe. Bitte hilf mir, zu verstehen, was du meinst.» 
  • 🌞 «Ich fühle mich nicht gut. Ich glaube, es würde mir helfen, wenn du … tun würdest.» 
  • 🌞 «Ich spüre, dass ich mich im Moment nicht öffnen kann. Magst du mir etwas Zeit geben?» 
  • 🌞 «Es tut mir leid, dass ich nicht für dich da sein kann. Ich fühle mich überfordert mit der Situation.» 

 

Schweigen kann ebenfalls wie ein heilsames Gespräch in Einklang sein. Allerdings kann Schweigen auch sehr grob und verletzend sein. Es steht uns nicht zu, einen Menschen durch Schweigen zu erniedrigen oder ihm eine wichtige Antwort vorzuenthalten und ihn dadurch leiden zu lassen. Wenn wir schweigen, darf unser Schweigen wie ein schönes Gedicht in Stille sein und nicht wie das Donnergrollen unseres wortlosen Zornes und unserer Rachegelüste. 

Tiefes Zuhören, achtsames Mitgefühl: 

Tiefes Zuhören macht schön; sowohl die zuhörende Person als auch das gehörte Gegenüber. Wenn wir jemandem zuhören, kommen wir mit einer anderen Ausprägung von Leben in Kontakt, als wir es sind, und wir wachsen dabei in die Schönheit des gegenseitigen Verstehens hinein. Dabei können wir absichtsvoll in Resonanz treten; unabhängig davon, ob wir gleicher Meinung sind und ähnlich empfinden oder nicht.  

Wenn wir jemandem das Geschenk unseres wertungsfreien Zuhörens machen, ist es, als würden wir jemandem von Augenblick zu Augenblick sagen: «Ich höre dich. Du bist es wert, gehört zu werden. Ich anerkenne deine Worte und dein Erleben.» 

Mit achtsamem Zuhören und achtsamem Mitgefühl können wir viel Leid in anderen lindern – ohne, dass wir immer um die passenden Worte wissen müssen. Unsere Mitmenschen können unser Dasein spüren. Das ist gerade in der heutigen Zeit von nicht zu unterschätzendem Wert! Wir zeigen anderen damit, dass wir sie nicht konsumieren, sondern dass wir mit ihnen verweilen. 

Manchmal braucht es vielleicht ein Nachfragen, um uns zu vergewissern, dass wir unser Gegenüber verstehen. Wenn wir spüren, dass ein Nachfragen nötig und für unser Gegenüber nicht verletzend ist, dürfen wir dies selbstverständlich tun. Wir dürfen Fragen so stellen, dass wir unser Gegenüber nicht in Frage stellen.   

 

Kein Leid schaffen, Leid verringern: 

Alle zuvor genannten Ausführungen münden schlussendlich in diesen letzten Abschnitt: Sich und anderen achtsam zu begegnen bedeutet, kein zusätzliches Leid zu schaffen (weder für uns, noch für andere), bestenfalls sogar Leid zu lindern.  


Wir alle leiden in grösserem oder kleinerem Umfang. Machen wir unser Leiden nicht schwerer, indem wir uns selbst oder einander verkennen! Unser achtsames Dasein kann für unser Gegenüber genauso wie für uns ein Quell von Freude und Kraft sein. Tiefes Zuhören, heilsames Sprechen und mitfühlendes Verweilen sind die wertvollsten Schätze im zwischenmenschlichen Dasein.