Achtsamkeit im Umgang mit Stress
Das Wichtigste in Kürze
Wir können Herausforderungen, physische und psychische Verletzungen und Schicksalsschläge meist nicht verhindern. Was wir tun können, ist, stressverschärfenden Gedanken mit Achtsamkeit zu begegnen. Unsere Sicht auf die Situation und die Dinge kann viel dazu beitragen, wie intensiv wir Stress empfinden und wie stark der Leidensdruck ist. (Hier geht’s zum Artikel »Stress und seine Auswirkungen«.)
Sehr oft, wenn wir etwas Schmerzhaftes erleben, quälen wir uns in Gedanken zusätzlich mit Vorwürfen, Ängsten, Sorgen und Ablehnung. Im Buddhismus spricht man vom »second arrow«: Wir sind von einem Pfeil schmerzhaft getroffen worden, schiessen aber selbst einen zweiten Pfeil auf uns ab, indem wir dem ursprünglichen Schmerz mit unbewussten negativen Gedankenmustern begegnen.
Der Stresskreislauf und die Möglichkeit, ihn zu unterbrechen
Die Grafiken aus dem Buch von Jon Kabat-Zinn zeigen den Stresskreislauf: Unsere Stressreaktion kann unter anderem zu chronischer Überreizung, Herzrhythmusstörungen und Schlafstörungen führen, sie kann uns in Abhängigkeiten treiben und schliesslich sogar einen Zusammenbruch hervorrufen.
Tagtäglich sind wir beruflich und / oder privat mit potenziellen Stressoren konfrontiert. Wir haben zuviel Arbeit, zu viele Termine und soziale Verpflichtungen, zu wenig Zeit für uns selbst, sind permanent mit negativen Nachrichten konfrontiert – und dann braucht es manchmal nur noch eine weitere Hiobsbotschaft, um uns vollends aus der Bahn zu werfen.
Das Erfreuliche ist: Achtsamkeit, wie sie im MBSR-Kurs gelehrt wird, gibt uns machtvolle Werkzeuge in die Hand, wie wir auf potenzielle innere und äussere Stressoren umsichtig reagieren können.
Mit Hilfe der Achtsamkeit können wir:
- Verspannungen im Körper achtsam wahrnehmen,
- uns unserer flachen, oberflächlichen Atmung bewusst werden,
- automatische, schlecht funktionierende Reaktionsmuster unterbrechen,
- den Gesamtkontext eines Ereignisses berücksichtigen,
- problemorientiert vorgehen,
- neue Möglichkeiten erkennen,
- uns als handlungsfähig erleben und
- das innere Gleichgewicht schneller herstellen.
Und: Bei Achtsamkeitspraktizierenden schüttet der Körper weniger schnell und auch quantitativ weniger Stresshormone aus als bei Nichtpraktizierenden. MBSR-Kursabsolventinnen und –absolventen haben somit per se einen entscheidenden Vorteil: Situationen und Begebenheiten werden weniger schnell als bedrohlich und stressbeladen interpretiert.
Wie aber lernt man, dem Stress achtsam zu begegnen?
Schritt 1: Sich seiner Bewertungen bewusst werden
Wir dürfen uns bewusst werden, dass es nicht die Ereignisse an sich sind, die Stress verursachen, sondern unsere Wahrnehmung und Bewertung.
»Nicht was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus.«
[Marie v. Ebner-Eschenbach]
»Schmerz ist unvermeidbar. Leiden nicht.«
[Jack Kornfield]
Der Tod der / des Liebsten ist zweifelsohne unglaublich schmerzhaft, und dieser Schmerz kann uns ein Leben lang begleiten. Aber ob der Verlust dazu führt, dass wir uns verschliessen, dass wir verbittert werden, uns selbst und die Welt ablehnen und nie wieder gesunde Beziehungen pflegen, das liegt in unserer Hand.
Der erste Schritt besteht also darin, sich der stressverschärfenden Gedanken und automatisierten Reaktionen bewusst zu werden. Die Gedanken und Reaktionen dürfen so belassen werden – Selbstkasteiung ist fehl am Platz. Wichtig ist, dass wir wahrnehmen, wie wir auf Schmerz reagieren. Wir dürfen unserer Art, in emotional, physisch und psychisch belastenden Situationen zu denken und zu handeln, auf die Spur kommen.
Im MBSR-Kurs wird dazu eine Woche lang ein Tagebuch über unangenehme Ereignisse geführt, in dem nebst dem Ereignis selbst auch die begleitenden Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen thematisiert werden. Der nachfolgende (auf Freiwilligkeit basierende) Austausch in der Kursgruppe kann den einzelnen Teilnehmenden wertvolle Erkenntnisse zu den individuellen Handlungsmustern liefern.
Jeder Mensch ist zu Achtsamkeit fähig; man benötigt dazu lediglich die innere Bereitschaft, sich immer wieder und mit allen Sinnen dem bewussten Wahrnehmen zuzuwenden. Dabei sollen Körperempfindungen, Gedanken und Gefühle in die Betrachtung miteinbezogen werden, ohne diese drei Komponenten zu stark voneinander zu trennen oder sich mit einer davon zu identifizieren.
Schritt 2: Die Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen urteilslos annehmen
Wir werden im Laufe unseres Lebens immer wieder mit unabänderlichen Tatsachen konfrontiert. Und wir können nicht kontrollieren, welche Gedanken und Gefühle dabei auftauchen. Aber wir können unsere Gedanken und Gefühle und die damit verbundenen Körperempfindungen aufmerksam betrachten, uns ihnen zuwenden, sie annehmen als verständliche Reaktion auf den Schmerz, ohne uns in ihnen zu verlieren. Wir sind nicht unsere Angst. Wir sind nicht unsere Sorgen, Zweifel, Gewissensbisse. Aber dürfen sie haben; derartige Reaktionen sind überaus menschlich. Wir dürfen uns annehmen in unserer Verzweiflung.
Sobald wir gelernt haben, unsere Empfindungen und Gedanken in vielen Situationen (es bleibt natürlich ein lebenslanges Lernfeld) wahrzunehmen und anzunehmen, können wir in einem nächsten Schritt lernen, reaktive Verhaltensmuster abzulegen.
Schritt 3: Reaktive Verhaltensmuster ablegen
Thea Rytz (2018) schreibt zu diesem Thema:
»Warum wir in emotional intensiven Situationen vorerst nicht handeln sollten:
Ein automatisch einsetzendes Handeln ist in den meisten Situationen nicht angemessen. Emotional schwierige Situationen sind intensiv und entwickeln eine Dynamik, die uns oft überfordert. Wir handeln dann sofort, weil wir die Schwierigkeiten auflösen möchten. In der Aktivität kann sich unsere Unruhe ausdrücken und wir lenken uns einen Moment von den unangenehmen Gefühlen ab. Oft entstehen aber durch überstürztes Handeln neue Schwierigkeiten. Wenn wir achtsam sind, so merken wir, ob unsere Aktivität der Situation angemessen ist oder ob wir uns dadurch nur von den negativen Gefühlen ablenken und innerlich beruhigen wollen. Die oszillierende Aufmerksamkeit hilft uns, innerlich Spielraum zu behalten, uns selbst freundlich zu beobachten und respekt- und verantwortungsvoll unser Verhalten zu lenken. Im Fluss der Achtsamkeit erfahren wir uns als selbstbewusster, kompetenter und souveräner, weil wir von den Gedanken nicht gefangen, von den Gefühlen nicht überschwemmt und von den Empfindungen nicht überwältigt werden. Dadurch sind wir nicht etwa distanziert, sondern empfänglicher, verbundener und anwesender.«
[Rytz, Thea (2018). Achtsam bei sich und in Kontakt (4. Auflage). Göttingen: Hogrefe AG]
Paula Meibert (2010) empfiehlt folgendes Vorgehen in emotional schwierigen Situationen:
1. Innehalten und den Atem spüren.
2. Das Gefühl im Körper wahrnehmen.
3. Das Gefühl benennen ohne zu bewerten z. B.: »Da ist Angst«, »Da ist Ärger«.
4. Gedanken und Bewertungen dazu wahrnehmen, ohne sich mit der Geschichte oder mit Schuldzuweisungen zu identifizieren.
5. Das Analysieren und Nachdenken über das Gefühl wahrnehmen.
6. Das Gefühl zulassen, beobachten und bewusst wahrnehmen, ohne sich in dieses hineinziehen zu lassen.
7. Wenn dies zu schwierig ist, immer wieder zum Atem zurückkehren und von neuem beginnen.
8. Eine gute Haltung ist: Offen sein für den Prozess und Mitgefühl entwickeln.
Meibert, Paula (2010). Stress bewältigen mit Achtsamkeit. Zu innerer Ruhe kommen durch MBSR. München: Kösel Verlag
Meine Achtsamkeitspraxis
Das oben beschriebene Vorgehen von Paula Meibert empfinde ich als sehr hilfreich. Aber: Manche Prozesse laufen unglaublich schnell ab; manche Situationen erfordern rasches Agieren.
Im Lehrerberuf war ich immer wieder mit Situationen konfrontiert, die zügiges Handeln nötig machten: Auf einer Bergwanderung beispielsweise kickte ein Elfjähriger unbedacht einen Stein – nicht ahnend, dass die Serpentinen so verlaufen, dass wir just über einer anderen Wandergruppe waren. Zum Glück wurde niemand getroffen. Ich entschied mich dafür, dem Jungen augenblicklich mit lauter Stimme die Gefährlichkeit der Situation zu erklären. Die ganze Klasse hat zugehört und den Ernst der Lage erfasst.
Bevor ich reagiert habe, habe ich nur den ersten Punkt aus Meiberts Vorschlag umgesetzt, indem ich mir exakt zwei Atemzüge lang Zeit genommen habe: Einen, um bedacht, den anderen, um laut sprechen zu können. Für eine Analyse meiner Gefühle blieb keine Zeit.
Ich denke, Meiberts Schema lässt sich auf verschiedene Alltagssituationen adaptieren – manchmal lässt eine akut gefährliche Situation auch nur eine verkürzte Variante zu; der Rest muss womöglich nach der Situation folgen. Auch bewerte ich es nicht als Niederlage (»second arrow« vermeiden), wenn ich mir erst nach dem Reagieren meiner Gefühle und Gedanken bewusst werde. Bereits mehr als die halbe Miete ist: Wir werden uns ihrer bewusst, und wir lassen sie zu. Durch derartiges kontinuierliches Üben werden wir uns unserer Befindlichkeit immer schneller und immer häufiger bewusst, bis bedachtes Handeln in vielen Situationen zu einem Habitus wird.
Achtsamkeit kann meines Erachtens also an verschiedenen Angelpunkten ansetzen (siehe untenstehende Grafik): Bei der Betrachtung des Stressauslösers unter Miteinbezug des Gesamtkontextes, bei der Betrachtung der Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen und / oder bei der Betrachtung unserer Reaktion. An jedem Punkt ist sie wertvoll; an jedem Punkt kann sie unser Stresserleben und unsere Einstellung zur Situation positiv beeinflussen.
Vielleicht möchten Sie Paula Meiberts Vorgehensweise ausprobieren? Welche Erfahrungen machen Sie, wenn Sie sich Ihren Körperempfindungen, Gedanken und Gefühlen freundlich und mitfühlend zuwenden?