Gefühle anerkennen statt weises Buddha-Lächeln

Vor Kurzem war ich mit einer Bekannten spazieren. Im Laufe unseres Gesprächs äusserte ich mich zu einer Situation, die mir sehr unangenehm war. Die Bekannte meinte: «Aber das müsste dir doch gleichgültig sein! Immerhin bist du Achtsamkeitscoach!» 

Ihre Aussage überraschte mich nicht. Wenn ich Kursteilnehmenden sage, dass es okay ist, Gefühle wie Trauer, Angst, Zorn oder gar Hass zu empfinden, reagieren diese in der Regel ganz ähnlich: «Aber ich meditiere doch, um in Zukunft keine derartigen Gefühle mehr zu haben!» 

Achtsamkeit als das Anerkennen unseres Erlebens

Es ist mehr als verständlich, unangenehmen Gefühlen aus dem Weg gehen, sie sogar gänzlich «weg haben» zu wollen. Doch darum geht es beim Achtsamkeitstraining nicht. Auf dem Weg zu mehr Achtsamkeit brauchen wir uns nicht zu einem sanften und weisen Buddha-Lächeln zu zwingen und die Gefühle weg zu meditieren. Es reicht, wenn wir wissen, was in uns vorgeht. Dieses Erkennen von Trauer, Angst, Zorn, Hass oder Freude, Zuversicht, Gelassenheit, Liebe, dieses Anerkennen, ohne uns in Bewertungen zu verlieren oder uns mit den jeweiligen Gefühlen und Stimmungen zu identifizieren, das ist Achtsamkeit. 

Wenn wir das Wechselspiel der Gefühle immer und immer wieder beobachten, ohne uns zu involvieren, werden wir erkennen: Die Leinwand unseres Daseins wird ständig neu eingefärbt. Die Gefühle wechseln und wandeln sich; manchmal sogar innerhalb von Sekunden. Auf der inneren Staffelei zeigen sich immer wieder neue Bildkompositionen im Rahmen des Daseins, die alle zweierlei miteinander gemeinsam haben: Sie sind nicht von Dauer und (damit einhergehend) sie zeigen nicht den Duktus des Lebens an sich, sondern den Duktus unserer Wahrnehmung im jeweiligen Moment.

Bewusstsein für Vergänglichkeit fördert Gelassenheit

Gerade das Anerkennen der Komponente der Vergänglichkeit dieser geistigen Zustände kann tatsächlich zu Gelassenheit führen. Sie kann dazu führen, dass wir in völliger Ruhe und tiefer Harmonie sagen können «Das finde ich furchtbar.» oder «Mein Herz hüpft vor Freude.» Die Gefühle ängstigen uns nicht mehr und sind kein Fremdkörper mehr in unserem Dasein. Wir betrachten das Bild in uns und wissen zu jedem Zeitpunkt um seine Farben und seine Vergänglichkeit. Und: Wir erlangen dadurch die Fähigkeit, mit urteilsloser Bewusstheit zu sein, zu agieren oder nicht zu agieren; also frei zu entscheiden, ob und wenn ja, auf welche Art wir den Gefühlen Ausdruck verleihen wollen. 
Diese Gelassenheit wiederum kann zu einem echten inneren Lächeln führen, jenseits von Plattitüden oder schwer umsetzbaren Vorsätzen wie «Ab jetzt werde ich gelassener!», «Ab jetzt nehme ich alles nicht mehr so ernst!» oder «Ab jetzt ärgere ich mich nicht mehr über …!»

Fazit 

Gelassenheit und freudvolle Gestilltheit erreichen wir also nicht, indem wir die Gefühle negieren oder sie unterdrücken. Wir finden zu Gleichmut (≠ Gleichgültigkeit), wenn wir alle Gefühle erkennen, anerkennen, ihr Wechselspiel mit Geduld beobachten und sie nicht festhalten. Und dabei ganz frei entscheiden, ob / auf welche Art wir die Gefühle nach aussen tragen wollen.