Authentizität

Begrifflichkeit 

Als Synonyme für »Authentizität« führt das Wörterbuch folgende Begriffe auf: 

  • Echtheit 
  • Glaubwürdigkeit 
  • Sicherheit 
  • Verlässlichkeit 
  • Wahrheit 
  • Zuverlässigkeit 

 

Der permanente Rollenwechsel 

Jeden Tag schlüpfen wir beruflich und privat in unterschiedliche Rollen. Als Angestellte/r oder Chef/in sind wir mit anderen Erwartungen konfrontiert, als wenn wir in der Rolle eines Elternteils oder der Partnerin / des Partners sind. In der Interaktion mit unseren kleinen Sprösslingen sind wir in einer anderen Rolle, als wenn wir mit unseren Kollegen beim Feierabendbier sitzen. 

Trotz all dieser Rollen und der damit verknüpften Ansprüche ist es möglich, authentisch zu sein und ganz (bei) sich selbst zu bleiben. 

 

Im Zen sagt man: 

»Spanne nicht eines anderen Bogen, reite nicht eines anderen Pferd.« 

 

Und Jack Kornfield (2018) führt aus: 

»Es gibt nur einen Menschen, dem Sie treu seinen können, und der sind Sie.« 

 

Warum es uns schwer fallen kann, authentisch zu sein 

Früh lernt der Mensch, dass er sich Liebe und Anerkennung erkämpfen muss. In der Gesellschaft ist es wenig erwünscht, sich selbst zu sein. Man eckt beispielsweise genauso an, wenn man sehr introvertiert ist, wie wenn man eine überbordende, extrovertierte Art an den Tag legt: Lebhaften, lebensfrohen Kindern verschreibt man Ritalin, um ihrem Übermut Einhalt zu gebieten und bei stillen Mädchen und Jungen tendiert das Umfeld manchmal dazu, ihre bunte Innenwelt zu verkennen. Allein in den USA nehmen 45 Millionen Zwei- bis Zwölfjährige Medikamente gegen Depressionen, ADHS, Ängste und weitere psychische Störungen ein (Kornfield, 2018, S. 187). Man macht diese Kinder »passend«. 

 

Wir üben uns bereits als Kleinkinder darin, regelkonform mitzulaufen: Bin ich ein Junge und möchte mich gern rosa anziehen? Pech gehabt. Entweder nehme ich den Hohn der anderen Kinder in Kauf oder aber ich trage auch nur blau, schwarz und grün. Und was im Kleinen beginnt, weitet sich aus: Kein Freifach belegen, damit mehr Zeit zum Spielen und Basteln bleibt? Nein, die anderen besuchen doch Latein, Mathe-Zusatz und geometrisch-technisches Zeichnen. Musiker werden? Nein, zuerst eine richtige Ausbildung. 

  

Wie wir unsere Authentizität zurückgewinnen können 

Wir alle waren als Babys völlig authentisch, bevor wir lernten, unsere Eigenheiten abzulegen und uns anzupassen. Tatsächlich kann es durchaus Sinn ergeben, gewissen Tendenzen nicht nachzugeben, da sie sich als schädlich für uns oder andere erweisen können. Aber vielfach streifen wir auch liebenswerte oder zumindest absolut harmlose Eigenheiten ab und verbiegen uns unnötig. 

Trotzdem gibt es auch im Erwachsenenalter immer wieder Situationen, in denen wir uns selbst als authentisch erleben. 

 

Wann sind Sie authentisch? Wann können Sie ganz sich selbst? 

 

Achtsamkeit hilft, die authentischen Momente zu vermehren bis hin zu permanenter Authentizität. 

Wir können unsere Gewohnheiten, Motive, Gedanken, Gefühle, Glaubenssätze, Konditionierungen und Werte wahrnehmen lernen und dabei mehr und mehr merken, wann wir in Einklang mit uns selbst handeln und wann nicht. Wer sich bewusst ist, was durch seinen Geist wetterleuchtet, kann sein Handeln reflektiert ausrichten, unabhängig vom Kontext, dem Handlungsumfeld oder der jeweiligen Rolle. 

 

Gefühle und Gedanken können dabei richtungsweisend sein – nicht gezwungenermassen in Bezug auf ihre inhaltliche Natur, denn viele Gedanken sind schlichtweg unwahr (z.B.  »Mir gelingt nichts.«), doch allein ihr Auftauchen kann uns etwas über unsere inneren Vorgänge und Motive verraten. Zuerst aber müssen wir lernen, Gedanken und Gefühle bewusst zur Kenntnis zu nehmen und uns nicht blindlings gemeinsam mit ihnen in einem unberechenbaren Strom mit Untiefen und Stromschnellen treiben zu lassen. Der MBSR-Kurs kann uns beim Erwerb dieser Fähigkeit unterstützen. 

  

Ein Meister / eine Meisterin in Authentizität werden 

Unter dem Eintrag »Wer bin ich?« wurde bereits die Wandelbarkeit diverser Aspekte unseres Seins beleuchtet: Wir können im einen Augenblick glücklich, im nächsten zutiefst betrübt sein. Wir können gesund oder krank sein. Oder mehrere Dinge gleichzeitig: Mutter, Chefin, Partnerin, Kollegin, Sängerin. 

 

Unter dieser veränderlichen Oberfläche jedoch liegt ein stiller Raum, der zu wertungsfreiem Wahrnehmen prädestiniert ist. Authentisch zu sein bedeutet, seine Gedanken und Gefühle nicht zu unterdrücken, sondern sie absichtsvoll wahrzunehmen und anzunehmen, sich zugleich aber seiner vollen Freiheit bewusst zu sein, seine Reaktionen wählen und steuern zu können. 

Wer authentisch ist, ist über das Bedürfnis hinausgewachsen, sich selbst für andere zu inszenieren. Ein authentischer Mensch handelt kohärent und bewusst und nicht wider jener Werte, die ihm in der aktuellen Lebensphase wichtig sind. Authentische Menschen können es sich erlauben, Gefühle auszusprechen und Emotionen zu zeigen, denn ihre Aufrichtigkeit und tiefe Selbstannahme springt auf das Umfeld über und führt oft zu respektvoller Anerkennung, ohne dass diese absichtlich gesucht worden ist. 

Zum Meister / zur Meisterin in Authentizität werden wir, wenn wir uns achtsam wahrnehmen und auch annehmen lernen und das Feld des reaktiven, impulsiven Redens und Handelns verlassen. 

Auch Rollenkonflikte müssen dabei kein Hindernis sein. Warum nicht einfach den Konflikt oder das Ungemach unverblümt kommunizieren? Dem anderen erklären, in welcher Bredouille man steckt? Probieren Sie es aus! Sie werden sehen: Diese Offenheit stärkt Ihre natürliche Autorität. 

  

Einladung 

Vielleicht mögen Sie sich in den kommenden Tagen folgenden Fragen widmen: 

  •  In welchen Situationen oder zu welchen Zeitpunkten fühlen Sie sich richtig entspannt? 
  •  Wann sind Sie »sich selbst«? 
  •  In welchen Rollen fällt es Ihnen schwer, bei sich zu sein? 
  •  Wie fühlt es sich an, wenn Sie gegen Ihre Intuition handeln? Versuchen Sie, die Befindlichkeit zu erforschen und den auftretenden Gedanken Raum zu geben, ohne sich darin zu verlieren. 
  •  Wie fühlt es sich an, wenn Sie in Einklang mit Ihren Werten handeln? Würden Sie dies als »authentisch leben« bezeichnen? 
  •  Was ist Authentizität für Sie? 

Quelle: 

Kornfield, Jack (2018). Wahre Freiheit. Der buddhistische Weg, in jedem Augenblick glücklich und geborgen zu sein. O.W. Barth, München. Seiten 184 – 200.