Vom kollektiven Körper des Glücks
Eckhart Tolle spricht vom kollektiven Schmerzkörper; von einem Schmerz in der kollektiven Psyche der Menschheit, der seit jeher und immer wieder aufs Neue von all dem Leid genährt wird, das in der Welt geschehen ist und täglich geschieht. Es ist die Teilhabe des Individuums am globalen Leid; das Erahnen des Schmerzes hinter dem persönlich erlebten Schmerz, das Erkennen der eigenen Bedürftigkeit in der Bedürftigkeit der Welt.
Diesen kollektiven Schmerzkörper habe ich mir jahrelang als ad absurdum geführte Variante eines siamesischen Zwillings, gewissermassen als einen siamesischen Mehrling, vorgestellt; eine acht-Milliarden-köpfige Monstrosität, die sich dasselbe geschwächte Herzkreislaufsystem, dieselben erkrankten Atemwegsorgane und dasselbe unerträgliche Magengrimmen teilt. Ein Moloch vor den Toren des Seins.
Erst vor kurzem habe ich erkannt: Da gibt es auch einen kollektiven Körper des Glücks. Eine tiefe, authentische Teilhabe am Strom allen Lebens, am Strom des Lebens, an den Schönheiten ungekünstelten Seins, an einem Erfolg, einem Lachen, einem fremden und zugleich eigenen Glücksmoment. Ein Mitfreuen, das über das eigene Leben hinauszugehen vermag und auch das Glück eines anderen vorbehaltlos zu umarmen weiss. Ein verflochten-Sein des eigenen Glücks mit dem Glück aller Lebewesen.
Haben Sie schon mal einen fremden Menschen in Freudentränen ausbrechen sehen und sich selbst ergriffen gefühlt?
Hat sich schon einmal jemand mit Ihnen über einen freudigen Vorfall in Ihrem Leben gefreut?
Im kollektiven Körper wird mit jedem Augenblick ein Atemzug in einen erkrankten, aber auch in einen gesunden Lungenflügel getan. Jeder Herzschlag ist zugleich ein Herzschlag einer geschwächten wie auch einer starken Herzkammer.
Die Teilhabe des Einzelnen am kollektiven Empfinden beschränkt sich nicht auf das Leid; sie geht weiter über dessen Ränder hinaus und berührt auch ein kollektives Heilsein; die Soheit und Ganzheit des Kollektivs, die in Resonanz zur Soheit und unantastbaren Ganzheit des Individuums schwingt.
Und mag es uns auch manchmal mit Blick auf die Welt so scheinen, als sei der schmerzerfüllte Körper der gefrässigere der beiden, der sich vom vermeintlich filigranen Körper des Glücks nährt, so bin ich doch überzeugt: Der Körper des gemeinsamen Glücksempfindens, des genuinen Freuens und Mitfreuens, ist unglaublich resilient, kann sogar wachsen neben und mit dem Körper des Leids und wird nicht eher versterben – wie er das auch in den dunkelsten Epochen der Menschheitsgeschichte niemals getan hat –, bis die letzten Menschen die letzten Atemzüge getan haben. Atemzüge in einen erkrankten und in einen völligen heilen Flügel der Weltenlunge.