Ein Blick auf Krankheit und Heilung
Wenn jemand in unserem Umfeld erkrankt, beispielsweise an Krebs, mögen wir vielleicht nach den Gründen suchen.
«Er hat viel geraucht.» oder «Sie hat sich ungesund ernährt.» mögen wir vielleicht sagen. Oder: «Körper und Geist dieser Person waren offensichtlich nicht in Einklang.»
Derartigen Gedanken oder Aussagen beruhigen uns. Wir schieben dem oder der Betroffenen nicht nur alle Verantwortung zu, sondern nicht selten auch die Schuld an seinem oder ihrem Leid, und wiegen uns im ebenso tröstlichen wie irrigen Glauben, uns könne so eine Krankheit nicht ereilen; wir seien besser aufgestellt oder hätten mit unserer Geisteshaltung oder Lebensweise die Kontrolle über die zufälligen Schlenker des Schicksals.
Mit diesen Vorstellungen aber verwehren wir uns der vollumfänglichen Teilhabe an der fragilen stofflichen Ausprägung von Leben, die das Menschsein darstellt.
Thích Nhất Hạnh erlitt 2014 eine (nicht tödliche) Hirnblutung, obwohl er während des ganzen Lebens sein Hirn mit Meditationen trainiert, verjüngt und gepflegt und sich Frieden und Mitgefühl verpflichtet hatte.
Suzuki Roshi, der Autor des weltberühmten Buches „Zen-Geist, Anfänger-Geist. Eine Einführung in die Zen-Praxis“, starb im Alter von 67 Jahren qualvoll an Krebs. Sein Leben war ein einziges Zeugnis von Bewusstheit, Umsicht, Weisheit und Harmonie.
Nicht jede Krankheit ist auf eine Disharmonie zwischen Körper und Geist (die sich zum Beispiel in einem ungesunden Lebenswandel äussern kann) oder eine Disharmonie zwischen Individuum und toxischer Umwelt zurückzuführen.
Und selbst wenn eine Krankheit mit einer Disharmonie in Zusammenhang steht: Das Geflecht der Wirklichkeit ist weitaus komplexer als das. Und einfacher.
Leben bedeutet auch Krankheit. Leben bedeutet auch Sterben. Leben ist ein tödliches Geschäft; die Anerkennung der Vergänglichkeit schenkt uns Versöhnung.
Niemand ist gegen Krankheiten gefeit. Es gibt keine Geisteshaltung und kein Mentaltraining, die den Tod des Körpers verhindern. Krankheit und Tod sind natürliche Konsequenzen des Lebens; keine Anomalien, kein Versagen, kein Fehler. (Medizinische) Ursachenforschung darf nicht in der Sackgasse der Schuldfrage enden. Die Schuldfrage ist fehl am Platze. Ich wage sogar zu behaupten: bei jeder Krankheit.
Wenn unser Leben per se in den Tod unseres Körpers mündet, ist dann so etwas wie nachhaltige Heilung überhaupt möglich?
Ja. Wenn wir unsere Ganzheit tief erkennen, sind wir geheilt – selbst wenn der Körper stirbt. Heilung ist die Teilhabe an einer Ganzheit, die schon vor unserer Geburt unser Geburtsrecht war und es nach wie vor ist und bleiben wird. Heilung priorisiert nicht die Stofflichkeit, die körperliche Hülle. Heilung priorisiert das ganz Dasein mit dem, was ist. Heilung priorisiert die Ist-heit; unabhängig davon, ob diese eine (temporäre) Genesung oder den Tod des Körpers bedeutet. Das Sein im gegenwärtigen Augenblick ermöglicht – sogar wenn wir auf dem Totenbett liegen – Todlosigkeit.